Widerlegung eines Einwurfs gegen die Undulations- theorie.
Die Undulationstheorie hat oft den sehr scheinbaren Vorwurf erleiden müssen, daß sie für eines der einfachsten Phänomene, für die scharfe Begrenzung des Schattens, keine genügende Erklärung gebe. In allen andern Fällen nämlich, sagte man, wo wir Wellen durch eine Oeffnung AB (Fig. 112.) gehen sehen, bringen sie keines- wegs Wellen, die sich genau durch die Linien AE, BF begrenzen, hervor, sondern über diese durch den Mittelpunct der Wellen und die Grenze der Oeffnung gezogenen Linien hinaus erstrecken sich die Wellen; bei den Lichtwellen hingegen scheint die strenge Begren- zung des Schattens ein völliges Aufhören der Lichtwellen an eben jenen Linien, die hier die Schattengrenze des die Oeffnung ein- schließenden Körpers bezeichnen, anzudeuten.
Diese Abweichung von den Gesetzen der Wellen ist indeß nur scheinbar, da eine zwar schwache, aber doch merkliche Licht- Erschei- nung auch über die strengen Grenzen des Schattens hinaus statt findet, und sich Gründe, warum diese nur schwach und nur wenig über die Schattengrenze hinaus, in den Erscheinungen der Beu- gung oder Inflexion des Lichtes, sichtbar ist, angeben lassen. Was diesen letzten Umstand betrifft, so ist es sehr bekannt, daß Wasserwellen, die von C (Fig. 117.) ausgehend, die Oeffnung AB erreichen, dort neue Wellen DEF erregen, welche sich von der Oeffnung nach allen Seiten verbreiten und nicht so auffallend stärker bei E als bei D und F sind; aber es ist auch bekannt, daß schon bei den Schallwellen, wo allerdings die Fortpflanzung nach D und F merklich ist, doch der Schall in E viel lebhafter, in D, F schwächer gehört wird. Diese Erfahrungen deuten darauf hin, daß zwar jede Wellenbewegung die Eigenschaft, sich von der Oeff- nung, als von einem Mittelpuncte, zu verbreiten, behält, daß aber die Stärke der Erschütterung desto schneller jenseits der Linien AH, BK, abnimmt, je größer die Fortpflanzungsbewegung der Wellen
Funfzehnte Vorleſung.
Widerlegung eines Einwurfs gegen die Undulations- theorie.
Die Undulationstheorie hat oft den ſehr ſcheinbaren Vorwurf erleiden muͤſſen, daß ſie fuͤr eines der einfachſten Phaͤnomene, fuͤr die ſcharfe Begrenzung des Schattens, keine genuͤgende Erklaͤrung gebe. In allen andern Faͤllen naͤmlich, ſagte man, wo wir Wellen durch eine Oeffnung AB (Fig. 112.) gehen ſehen, bringen ſie keines- wegs Wellen, die ſich genau durch die Linien AE, BF begrenzen, hervor, ſondern uͤber dieſe durch den Mittelpunct der Wellen und die Grenze der Oeffnung gezogenen Linien hinaus erſtrecken ſich die Wellen; bei den Lichtwellen hingegen ſcheint die ſtrenge Begren- zung des Schattens ein voͤlliges Aufhoͤren der Lichtwellen an eben jenen Linien, die hier die Schattengrenze des die Oeffnung ein- ſchließenden Koͤrpers bezeichnen, anzudeuten.
Dieſe Abweichung von den Geſetzen der Wellen iſt indeß nur ſcheinbar, da eine zwar ſchwache, aber doch merkliche Licht- Erſchei- nung auch uͤber die ſtrengen Grenzen des Schattens hinaus ſtatt findet, und ſich Gruͤnde, warum dieſe nur ſchwach und nur wenig uͤber die Schattengrenze hinaus, in den Erſcheinungen der Beu- gung oder Inflexion des Lichtes, ſichtbar iſt, angeben laſſen. Was dieſen letzten Umſtand betrifft, ſo iſt es ſehr bekannt, daß Waſſerwellen, die von C (Fig. 117.) ausgehend, die Oeffnung AB erreichen, dort neue Wellen DEF erregen, welche ſich von der Oeffnung nach allen Seiten verbreiten und nicht ſo auffallend ſtaͤrker bei E als bei D und F ſind; aber es iſt auch bekannt, daß ſchon bei den Schallwellen, wo allerdings die Fortpflanzung nach D und F merklich iſt, doch der Schall in E viel lebhafter, in D, F ſchwaͤcher gehoͤrt wird. Dieſe Erfahrungen deuten darauf hin, daß zwar jede Wellenbewegung die Eigenſchaft, ſich von der Oeff- nung, als von einem Mittelpuncte, zu verbreiten, behaͤlt, daß aber die Staͤrke der Erſchuͤtterung deſto ſchneller jenſeits der Linien AH, BK, abnimmt, je groͤßer die Fortpflanzungsbewegung der Wellen
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Funfzehnte Vorleſung.
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Die Undulationstheorie hat oft den ſehr ſcheinbaren Vorwurf
erleiden muͤſſen, daß ſie fuͤr eines der einfachſten Phaͤnomene, fuͤr
die ſcharfe Begrenzung des Schattens, keine genuͤgende Erklaͤrung
gebe. In allen andern Faͤllen naͤmlich, ſagte man, wo wir Wellen
durch eine Oeffnung AB (Fig. 112.) gehen ſehen, bringen ſie keines-
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hervor, ſondern uͤber dieſe durch den Mittelpunct der Wellen und
die Grenze der Oeffnung gezogenen Linien hinaus erſtrecken ſich die
Wellen; bei den Lichtwellen hingegen ſcheint die ſtrenge Begren-
zung des Schattens ein voͤlliges Aufhoͤren der Lichtwellen an eben
jenen Linien, die hier die Schattengrenze des die Oeffnung ein-
ſchließenden Koͤrpers bezeichnen, anzudeuten.
Dieſe Abweichung von den Geſetzen der Wellen iſt indeß nur
ſcheinbar, da eine zwar ſchwache, aber doch merkliche Licht- Erſchei-
nung auch uͤber die ſtrengen Grenzen des Schattens hinaus ſtatt
findet, und ſich Gruͤnde, warum dieſe nur ſchwach und nur wenig
uͤber die Schattengrenze hinaus, in den Erſcheinungen der Beu-
gung oder Inflexion des Lichtes, ſichtbar iſt, angeben
laſſen. Was dieſen letzten Umſtand betrifft, ſo iſt es ſehr bekannt,
daß Waſſerwellen, die von C (Fig. 117.) ausgehend, die Oeffnung
AB erreichen, dort neue Wellen DEF erregen, welche ſich von der
Oeffnung nach allen Seiten verbreiten und nicht ſo auffallend
ſtaͤrker bei E als bei D und F ſind; aber es iſt auch bekannt, daß
ſchon bei den Schallwellen, wo allerdings die Fortpflanzung nach
D und F merklich iſt, doch der Schall in E viel lebhafter, in D,
F ſchwaͤcher gehoͤrt wird. Dieſe Erfahrungen deuten darauf hin,
daß zwar jede Wellenbewegung die Eigenſchaft, ſich von der Oeff-
nung, als von einem Mittelpuncte, zu verbreiten, behaͤlt, daß aber
die Staͤrke der Erſchuͤtterung deſto ſchneller jenſeits der Linien AH,
BK, abnimmt, je groͤßer die Fortpflanzungsbewegung der Wellen
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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/290>, abgerufen am 16.02.2025.
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