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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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sehen daher, daß der Zusammenhang der Theile einer allmählig
wirkenden Kraft besser widersteht, daß die Seitenmittheilung einer
nur auf wenige Theile beschränkt wirkenden Kraft sich wirksamer
zum Fortreißen der nicht unmittelbar getroffenen Theile zeigt, wenn
die Kraft langsam und stetig wirkt; es ist, als ob diese Seitenmit-
theilung eine gewisse Zeit forderte, so daß bei sehr raschem Stoße
das Losreißen der Theile schon erfolgt ist, ehe diese Seitenmitthei-
lung eintreten konnte. Unzählige tägliche Erfahrungen beruhen
hierauf. Ein scharf gefaltetes Papier kann nach der Richtung dieser
Falte zerrissen werden; aber nur dann, wenn man mit einem
schnellen Risse die Theile trennt, geht der Riß grade fort, und
langsam, Punct für Punct trennend, ist man der Gefahr seitwärts
einzureißen, weit mehr ausgesetzt.

Und so wie hier der Zweck durch eine schnelle Bewegung, nach
sicher bestimmter Richtung ausgeführt, erreicht wird, so dient zu
andern Zwecken eine recht langsame, vorsichtige Bewegung. Ein
eingerostetes Schloß soll geöffnet werden, und der Schlüssel, obgleich
er richtig eingesteckt ist, läßt sich nicht drehen; -- ein Ungeschickter
sieht sich sogleich nach einem Verstärkungsmittel seiner Kraft, eine
durch den obern Ring zu steckende Stange und dergleichen um;
wendet rasch alle Gewalt an, und bricht den Bart des Schlüssels
ab; der Schlosser dagegen, oder wer auch nur mit Schlössern umzu-
gehen weiß, faßt den Schlüssel leise, drängt langsam vorwärts,
verstärkt recht langsam seine Kraft, und erreicht dadurch seinen
Zweck. -- Man will eine verhältnißmäßig schwere Last an einem
ziemlich schwachen Faden oder Seile fortziehen; -- es gelingt viel-
leicht bei recht langsam und stetig vermehrter Kraft, aber der Faden
reißt, wenn man die Last mit einem Stoße auf einmal in Bewe-
gung setzen will. --

Diese ungleiche Einwirkung einer plötzlich wirkenden und einer
langsam andrängenden Kraft zeigt sich auch in einigen Erscheinun-
gen, die sich beim Steinesprengen und beim schnellen Reiben
weichen Eisens an Glas oder Stahl darbieten. Es ist bekannt,
daß man beim Absprengen der Steinmassen vom natürlichen Fels
oder beim Zersprengen einzelner Steine sich des Schießpulvers so
bedient, daß man cylindrische Löcher so tief, als man es nach
Maaßgabe der abzusprengenden Stücke nöthig findet, einbohrt, sie

ſehen daher, daß der Zuſammenhang der Theile einer allmaͤhlig
wirkenden Kraft beſſer widerſteht, daß die Seitenmittheilung einer
nur auf wenige Theile beſchraͤnkt wirkenden Kraft ſich wirkſamer
zum Fortreißen der nicht unmittelbar getroffenen Theile zeigt, wenn
die Kraft langſam und ſtetig wirkt; es iſt, als ob dieſe Seitenmit-
theilung eine gewiſſe Zeit forderte, ſo daß bei ſehr raſchem Stoße
das Losreißen der Theile ſchon erfolgt iſt, ehe dieſe Seitenmitthei-
lung eintreten konnte. Unzaͤhlige taͤgliche Erfahrungen beruhen
hierauf. Ein ſcharf gefaltetes Papier kann nach der Richtung dieſer
Falte zerriſſen werden; aber nur dann, wenn man mit einem
ſchnellen Riſſe die Theile trennt, geht der Riß grade fort, und
langſam, Punct fuͤr Punct trennend, iſt man der Gefahr ſeitwaͤrts
einzureißen, weit mehr ausgeſetzt.

Und ſo wie hier der Zweck durch eine ſchnelle Bewegung, nach
ſicher beſtimmter Richtung ausgefuͤhrt, erreicht wird, ſo dient zu
andern Zwecken eine recht langſame, vorſichtige Bewegung. Ein
eingeroſtetes Schloß ſoll geoͤffnet werden, und der Schluͤſſel, obgleich
er richtig eingeſteckt iſt, laͤßt ſich nicht drehen; — ein Ungeſchickter
ſieht ſich ſogleich nach einem Verſtaͤrkungsmittel ſeiner Kraft, eine
durch den obern Ring zu ſteckende Stange und dergleichen um;
wendet raſch alle Gewalt an, und bricht den Bart des Schluͤſſels
ab; der Schloſſer dagegen, oder wer auch nur mit Schloͤſſern umzu-
gehen weiß, faßt den Schluͤſſel leiſe, draͤngt langſam vorwaͤrts,
verſtaͤrkt recht langſam ſeine Kraft, und erreicht dadurch ſeinen
Zweck. — Man will eine verhaͤltnißmaͤßig ſchwere Laſt an einem
ziemlich ſchwachen Faden oder Seile fortziehen; — es gelingt viel-
leicht bei recht langſam und ſtetig vermehrter Kraft, aber der Faden
reißt, wenn man die Laſt mit einem Stoße auf einmal in Bewe-
gung ſetzen will. —

Dieſe ungleiche Einwirkung einer ploͤtzlich wirkenden und einer
langſam andraͤngenden Kraft zeigt ſich auch in einigen Erſcheinun-
gen, die ſich beim Steineſprengen und beim ſchnellen Reiben
weichen Eiſens an Glas oder Stahl darbieten. Es iſt bekannt,
daß man beim Abſprengen der Steinmaſſen vom natuͤrlichen Fels
oder beim Zerſprengen einzelner Steine ſich des Schießpulvers ſo
bedient, daß man cylindriſche Loͤcher ſo tief, als man es nach
Maaßgabe der abzuſprengenden Stuͤcke noͤthig findet, einbohrt, ſie

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[34/0056] ſehen daher, daß der Zuſammenhang der Theile einer allmaͤhlig wirkenden Kraft beſſer widerſteht, daß die Seitenmittheilung einer nur auf wenige Theile beſchraͤnkt wirkenden Kraft ſich wirkſamer zum Fortreißen der nicht unmittelbar getroffenen Theile zeigt, wenn die Kraft langſam und ſtetig wirkt; es iſt, als ob dieſe Seitenmit- theilung eine gewiſſe Zeit forderte, ſo daß bei ſehr raſchem Stoße das Losreißen der Theile ſchon erfolgt iſt, ehe dieſe Seitenmitthei- lung eintreten konnte. Unzaͤhlige taͤgliche Erfahrungen beruhen hierauf. Ein ſcharf gefaltetes Papier kann nach der Richtung dieſer Falte zerriſſen werden; aber nur dann, wenn man mit einem ſchnellen Riſſe die Theile trennt, geht der Riß grade fort, und langſam, Punct fuͤr Punct trennend, iſt man der Gefahr ſeitwaͤrts einzureißen, weit mehr ausgeſetzt. Und ſo wie hier der Zweck durch eine ſchnelle Bewegung, nach ſicher beſtimmter Richtung ausgefuͤhrt, erreicht wird, ſo dient zu andern Zwecken eine recht langſame, vorſichtige Bewegung. Ein eingeroſtetes Schloß ſoll geoͤffnet werden, und der Schluͤſſel, obgleich er richtig eingeſteckt iſt, laͤßt ſich nicht drehen; — ein Ungeſchickter ſieht ſich ſogleich nach einem Verſtaͤrkungsmittel ſeiner Kraft, eine durch den obern Ring zu ſteckende Stange und dergleichen um; wendet raſch alle Gewalt an, und bricht den Bart des Schluͤſſels ab; der Schloſſer dagegen, oder wer auch nur mit Schloͤſſern umzu- gehen weiß, faßt den Schluͤſſel leiſe, draͤngt langſam vorwaͤrts, verſtaͤrkt recht langſam ſeine Kraft, und erreicht dadurch ſeinen Zweck. — Man will eine verhaͤltnißmaͤßig ſchwere Laſt an einem ziemlich ſchwachen Faden oder Seile fortziehen; — es gelingt viel- leicht bei recht langſam und ſtetig vermehrter Kraft, aber der Faden reißt, wenn man die Laſt mit einem Stoße auf einmal in Bewe- gung ſetzen will. — Dieſe ungleiche Einwirkung einer ploͤtzlich wirkenden und einer langſam andraͤngenden Kraft zeigt ſich auch in einigen Erſcheinun- gen, die ſich beim Steineſprengen und beim ſchnellen Reiben weichen Eiſens an Glas oder Stahl darbieten. Es iſt bekannt, daß man beim Abſprengen der Steinmaſſen vom natuͤrlichen Fels oder beim Zerſprengen einzelner Steine ſich des Schießpulvers ſo bedient, daß man cylindriſche Loͤcher ſo tief, als man es nach Maaßgabe der abzuſprengenden Stuͤcke noͤthig findet, einbohrt, ſie

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/56>, abgerufen am 22.11.2024.