Herbst, wo die Fahrt frey war, hütete ich meist allein; trug ein Büchlein, das mir bloß darum jetzt noch lieb ist, bey mir, und las oft darinn. Noch weiß ich verschiedene sonderbare Stellen auswendig, die mich damals bis zu Thränen rührten. Jetzt kamen mir die bösen Neigungen in meinem Busen abscheulich vor, und machten mir angst und bang. Ich betete, rang die Hände, sah zum Himmel, bis mir die hellen Thränen über die Backen rollten; faßte einen Vorsatz über den andern, und machte mir so strenge Pläne für ein künftiges frommes Leben, daß ich darüber allen Frohmuth verlor. Ich versagte mir alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen ernstlichen Kampf mit mir selber wegen einem Distel- fink der mir sehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder behalten sollte? Ueber diesen einzigen Vogel dacht' ich oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm- keit, wie ich mir solche damals vorstellte, als ein unersteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor. Meine Geschwister mocht' ich herzlich lieben; aber je mehr ich's wollte, je mehr sah ich Widriges an ih- nen. In Kurzem wußt' ich weder Anfang noch End mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte, da ich meine Lage keiner Menschenseele entdeckte. Ich machte mir alles zur Sünde: Lachen, Jauchzen und Pfei- fen per se. Meine Gaißen sollten mich nicht mehr erzörnen dürfen -- und ich ward eher böser auf sie. Eines Tags bracht' ich einen todten Vogel nach Haus, den ein Mann geschossen, und auf einem Stecken in die Wiese aufgesteckt hatte: Ich nahm ihn, wie
Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig, die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang. Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel- fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm- keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor. Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih- nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte, da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei- fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie. Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus, den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0054"n="38"/>
Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt<lb/>
allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt<lb/>
noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch<lb/>
weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig,<lb/>
die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt<lb/>
kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen<lb/>
abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang.<lb/>
Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis<lb/>
mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte<lb/>
einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo<lb/>ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß<lb/>
ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir<lb/>
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen<lb/>
ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel-<lb/>
fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder<lb/>
behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich<lb/>
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-<lb/>
keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein<lb/>
unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.<lb/>
Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je<lb/>
mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih-<lb/>
nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End<lb/>
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,<lb/>
da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich<lb/>
machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei-<lb/>
fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr<lb/>
erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie.<lb/>
Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus,<lb/>
den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken<lb/>
in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[38/0054]
Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt
allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt
noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch
weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig,
die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt
kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen
abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang.
Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis
mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte
einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo
ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß
ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen
ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel-
fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder
behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-
keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein
unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.
Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je
mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih-
nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,
da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich
machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei-
fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr
erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie.
Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus,
den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken
in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/54>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.