höht. Oder geh' mir einmal im Maymond auf je- nen Rasenhügel vor unserer Hütte. Schau durch's buntgeschmückte Thal hinauf; sieh', wie die Thur sich mitten durch die schönsten Auen schlängelt; wie sie ihre noch trüben Schneewasser gerade unter dei- nen Füssen fortwälzt. Sieh', wie an ihren beyden Ufern unzählige Kübe mit geschwollnen Eutern im Gras waden. Höre das Jubelgetön von den grossen und kleinen Buschsängern. Ein Weg geht zwar an unsern Fenstern vorbey; aber der ist noch nichts. Sieh' erst jenseits der Thur jene Landstrasse mitten durch's Thal, die nie lär ist. Sieh' jene Reihe Häuser, welche Lichtensteig und Wattweil wie zusammenketten. Da hast du einigermaassen, was man in Städten und auf dem Lande nur haben kann. Ha! (sagst du vielleicht) Aber diese Matten und Kühe sind nicht unser! -- Närrchen! freylich sind sie -- und die ganze Welt ist unser. Oder wer wehrt dir, sie anzusehn, und Lust und Freud' an ihnen zu haben? Butter und Milch bekomm' ich ja von dem Vieh, das darauf weidet, so viel mir gelü- stet; also haben ihre Eigenthümer nur die Mühe zum Vortheil. Was braucht' es, jene Alpen mein zu heissen? Oder jene zierlich prangenden Obstbäu- me? Bringt man uns ja ihre schönsten Früchte in's Haus! Oder jenen grossen Garten? Riechen wir ja seine Bluhmen von weitem! Und selbst unser ei- gener kleiner; wächst nicht alles darinn, was wir hinein setzen, pflegen und warten? -- Also, lieber Junge! wünsch' ich dir, daß du bey all' diesen Ge- genständen nur das empfinden möchtest, was ich da- bey schon empfunden habe, und noch täglich empfin- de; daß du mit eben dieser Wonne und Wollust den Höchstgütigen in allem findest und fühlest, wie ich
hoͤht. Oder geh’ mir einmal im Maymond auf je- nen Raſenhuͤgel vor unſerer Huͤtte. Schau durch’s buntgeſchmuͤckte Thal hinauf; ſieh’, wie die Thur ſich mitten durch die ſchoͤnſten Auen ſchlaͤngelt; wie ſie ihre noch truͤben Schneewaſſer gerade unter dei- nen Fuͤſſen fortwaͤlzt. Sieh’, wie an ihren beyden Ufern unzaͤhlige Kuͤbe mit geſchwollnen Eutern im Gras waden. Hoͤre das Jubelgetoͤn von den groſſen und kleinen Buſchſaͤngern. Ein Weg geht zwar an unſern Fenſtern vorbey; aber der iſt noch nichts. Sieh’ erſt jenſeits der Thur jene Landſtraſſe mitten durch’s Thal, die nie laͤr iſt. Sieh’ jene Reihe Haͤuſer, welche Lichtenſteig und Wattweil wie zuſammenketten. Da haſt du einigermaaſſen, was man in Staͤdten und auf dem Lande nur haben kann. Ha! (ſagſt du vielleicht) Aber dieſe Matten und Kuͤhe ſind nicht unſer! — Naͤrrchen! freylich ſind ſie — und die ganze Welt iſt unſer. Oder wer wehrt dir, ſie anzuſehn, und Luſt und Freud’ an ihnen zu haben? Butter und Milch bekomm’ ich ja von dem Vieh, das darauf weidet, ſo viel mir geluͤ- ſtet; alſo haben ihre Eigenthuͤmer nur die Muͤhe zum Vortheil. Was braucht’ es, jene Alpen mein zu heiſſen? Oder jene zierlich prangenden Obſtbaͤu- me? Bringt man uns ja ihre ſchoͤnſten Fruͤchte in’s Haus! Oder jenen groſſen Garten? Riechen wir ja ſeine Bluhmen von weitem! Und ſelbſt unſer ei- gener kleiner; waͤchst nicht alles darinn, was wir hinein ſetzen, pflegen und warten? — Alſo, lieber Junge! wuͤnſch’ ich dir, daß du bey all’ dieſen Ge- genſtaͤnden nur das empfinden moͤchteſt, was ich da- bey ſchon empfunden habe, und noch taͤglich empfin- de; daß du mit eben dieſer Wonne und Wolluſt den Hoͤchſtguͤtigen in allem findeſt und fuͤhleſt, wie ich
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hoͤht. Oder geh’ mir einmal im Maymond auf je-
nen Raſenhuͤgel vor unſerer Huͤtte. Schau durch’s
buntgeſchmuͤckte Thal hinauf; ſieh’, wie die Thur
ſich mitten durch die ſchoͤnſten Auen ſchlaͤngelt; wie
ſie ihre noch truͤben Schneewaſſer gerade unter dei-
nen Fuͤſſen fortwaͤlzt. Sieh’, wie an ihren beyden
Ufern unzaͤhlige Kuͤbe mit geſchwollnen Eutern im
Gras waden. Hoͤre das Jubelgetoͤn von den groſſen
und kleinen Buſchſaͤngern. Ein Weg geht zwar an
unſern Fenſtern vorbey; aber der iſt noch nichts.
Sieh’ erſt jenſeits der Thur jene Landſtraſſe mitten
durch’s Thal, die nie laͤr iſt. Sieh’ jene Reihe
Haͤuſer, welche Lichtenſteig und Wattweil wie
zuſammenketten. Da haſt du einigermaaſſen, was
man in Staͤdten und auf dem Lande nur haben
kann. Ha! (ſagſt du vielleicht) Aber dieſe Matten
und Kuͤhe ſind nicht unſer! — Naͤrrchen! freylich
ſind ſie — und die ganze Welt iſt unſer. Oder wer
wehrt dir, ſie anzuſehn, und Luſt und Freud’ an
ihnen zu haben? Butter und Milch bekomm’ ich ja
von dem Vieh, das darauf weidet, ſo viel mir geluͤ-
ſtet; alſo haben ihre Eigenthuͤmer nur die Muͤhe
zum Vortheil. Was braucht’ es, jene Alpen mein
zu heiſſen? Oder jene zierlich prangenden Obſtbaͤu-
me? Bringt man uns ja ihre ſchoͤnſten Fruͤchte in’s
Haus! Oder jenen groſſen Garten? Riechen wir
ja ſeine Bluhmen von weitem! Und ſelbſt unſer ei-
gener kleiner; waͤchst nicht alles darinn, was wir
hinein ſetzen, pflegen und warten? — Alſo, lieber
Junge! wuͤnſch’ ich dir, daß du bey all’ dieſen Ge-
genſtaͤnden nur das empfinden moͤchteſt, was ich da-
bey ſchon empfunden habe, und noch taͤglich empfin-
de; daß du mit eben dieſer Wonne und Wolluſt den
Hoͤchſtguͤtigen in allem findeſt und fuͤhleſt, wie ich
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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/295>, abgerufen am 28.07.2024.
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