Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

men wissen. Schon seit Langem hab' ich mir viele
Mühe gegeben, mich selbst zu studiren, und glaube
wirklich zum Theil mich zu kennen -- meine Frau war
mir ein trefliches Hülfsmittel dazu -- zum Theil aber
bin ich mir freylich noch immer ein seltsames Räthsel:

So viele richtige Empfindungen; ein so wohlwol-
lendes, zur Gerechtigkeit und Güte geneigtes Herz;
so viel Freude und Theilnahm' an allem physisch und
moralisch Schönen in der Welt; solch betrübende Ge-
fühle beym Anblick oder Anhören jedes Unrechts,
Jammers und Elends; so viele redliche Wünsche end-
lich, hauptsächlich für andrer Wohlergehn. Dessen
alles bin ich mir, wie ich meyne, untrüglich bewußt.
Aber dann daneben: Noch so viele Herzenstücke;
solch einen Wust von Spanischen Schlössern, Türki-
schen Paradiesen, kurz Hirngespinnsten -- die ich so-
gar noch in meinem alten Narrnkopf mit geheimem
Wohlgefallen nähre -- wie sie vielleicht sonst noch in
keines Menschengehirn aufgestiegen sind. -- Doch itzt
noch etwas

LXXX.
Von meiner gegenwärtigen Gemüthslage.
Item von meinen Kindern
.

Auch darüber find' ich mich gezwungen, die reine
Wahrheit zu sagen; Zeitgenossen und Nachkömmlin-
ge mögen daraus schliessen was sie wollen. Noch
such' ich mich nämlich sogar zu bereden, jene fantastischen
Hirnbruten seyen am End ganz unsündlich -- weil

men wiſſen. Schon ſeit Langem hab’ ich mir viele
Muͤhe gegeben, mich ſelbſt zu ſtudiren, und glaube
wirklich zum Theil mich zu kennen — meine Frau war
mir ein trefliches Huͤlfsmittel dazu — zum Theil aber
bin ich mir freylich noch immer ein ſeltſames Raͤthſel:

So viele richtige Empfindungen; ein ſo wohlwol-
lendes, zur Gerechtigkeit und Guͤte geneigtes Herz;
ſo viel Freude und Theilnahm’ an allem phyſiſch und
moraliſch Schoͤnen in der Welt; ſolch betruͤbende Ge-
fuͤhle beym Anblick oder Anhoͤren jedes Unrechts,
Jammers und Elends; ſo viele redliche Wuͤnſche end-
lich, hauptſaͤchlich fuͤr andrer Wohlergehn. Deſſen
alles bin ich mir, wie ich meyne, untruͤglich bewußt.
Aber dann daneben: Noch ſo viele Herzenstuͤcke;
ſolch einen Wuſt von Spaniſchen Schloͤſſern, Tuͤrki-
ſchen Paradieſen, kurz Hirngeſpinnſten — die ich ſo-
gar noch in meinem alten Narrnkopf mit geheimem
Wohlgefallen naͤhre — wie ſie vielleicht ſonſt noch in
keines Menſchengehirn aufgeſtiegen ſind. — Doch itzt
noch etwas

LXXX.
Von meiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage.
Item von meinen Kindern
.

Auch daruͤber find’ ich mich gezwungen, die reine
Wahrheit zu ſagen; Zeitgenoſſen und Nachkoͤmmlin-
ge moͤgen daraus ſchlieſſen was ſie wollen. Noch
ſuch’ ich mich naͤmlich ſogar zu bereden, jene fantaſtiſchen
Hirnbruten ſeyen am End ganz unſuͤndlich — weil

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0276" n="260"/>
men wi&#x017F;&#x017F;en. Schon &#x017F;eit Langem hab&#x2019; ich mir viele<lb/>
Mu&#x0364;he gegeben, mich &#x017F;elb&#x017F;t zu &#x017F;tudiren, und glaube<lb/>
wirklich zum Theil mich zu kennen &#x2014; meine Frau war<lb/>
mir ein trefliches Hu&#x0364;lfsmittel dazu &#x2014; zum Theil aber<lb/>
bin ich mir freylich noch immer ein &#x017F;elt&#x017F;ames Ra&#x0364;th&#x017F;el:</p><lb/>
        <p>So viele richtige Empfindungen; ein &#x017F;o wohlwol-<lb/>
lendes, zur Gerechtigkeit und Gu&#x0364;te geneigtes Herz;<lb/>
&#x017F;o viel Freude und Theilnahm&#x2019; an allem phy&#x017F;i&#x017F;ch und<lb/>
morali&#x017F;ch Scho&#x0364;nen in der Welt; &#x017F;olch betru&#x0364;bende Ge-<lb/>
fu&#x0364;hle beym Anblick oder Anho&#x0364;ren jedes Unrechts,<lb/>
Jammers und Elends; &#x017F;o viele redliche Wu&#x0364;n&#x017F;che end-<lb/>
lich, haupt&#x017F;a&#x0364;chlich fu&#x0364;r andrer Wohlergehn. De&#x017F;&#x017F;en<lb/>
alles bin ich mir, wie ich meyne, untru&#x0364;glich bewußt.<lb/>
Aber dann daneben: Noch &#x017F;o viele Herzenstu&#x0364;cke;<lb/>
&#x017F;olch einen Wu&#x017F;t von Spani&#x017F;chen Schlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern, Tu&#x0364;rki-<lb/>
&#x017F;chen Paradie&#x017F;en, kurz Hirnge&#x017F;pinn&#x017F;ten &#x2014; die ich &#x017F;o-<lb/>
gar noch in meinem alten Narrnkopf mit geheimem<lb/>
Wohlgefallen na&#x0364;hre &#x2014; wie &#x017F;ie vielleicht &#x017F;on&#x017F;t noch in<lb/>
keines Men&#x017F;chengehirn aufge&#x017F;tiegen &#x017F;ind. &#x2014; Doch itzt<lb/>
noch etwas</p>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">LXXX.</hi></hi><lb/><hi rendition="#fr">Von meiner gegenwa&#x0364;rtigen Gemu&#x0364;thslage.<lb/>
Item von meinen Kindern</hi>.</head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>uch daru&#x0364;ber find&#x2019; ich mich gezwungen, die reine<lb/>
Wahrheit zu &#x017F;agen; Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en und Nachko&#x0364;mmlin-<lb/>
ge mo&#x0364;gen daraus &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en was &#x017F;ie wollen. Noch<lb/>
&#x017F;uch&#x2019; ich mich na&#x0364;mlich &#x017F;ogar zu bereden, jene fanta&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Hirnbruten &#x017F;eyen am End ganz un&#x017F;u&#x0364;ndlich &#x2014; weil<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0276] men wiſſen. Schon ſeit Langem hab’ ich mir viele Muͤhe gegeben, mich ſelbſt zu ſtudiren, und glaube wirklich zum Theil mich zu kennen — meine Frau war mir ein trefliches Huͤlfsmittel dazu — zum Theil aber bin ich mir freylich noch immer ein ſeltſames Raͤthſel: So viele richtige Empfindungen; ein ſo wohlwol- lendes, zur Gerechtigkeit und Guͤte geneigtes Herz; ſo viel Freude und Theilnahm’ an allem phyſiſch und moraliſch Schoͤnen in der Welt; ſolch betruͤbende Ge- fuͤhle beym Anblick oder Anhoͤren jedes Unrechts, Jammers und Elends; ſo viele redliche Wuͤnſche end- lich, hauptſaͤchlich fuͤr andrer Wohlergehn. Deſſen alles bin ich mir, wie ich meyne, untruͤglich bewußt. Aber dann daneben: Noch ſo viele Herzenstuͤcke; ſolch einen Wuſt von Spaniſchen Schloͤſſern, Tuͤrki- ſchen Paradieſen, kurz Hirngeſpinnſten — die ich ſo- gar noch in meinem alten Narrnkopf mit geheimem Wohlgefallen naͤhre — wie ſie vielleicht ſonſt noch in keines Menſchengehirn aufgeſtiegen ſind. — Doch itzt noch etwas LXXX. Von meiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage. Item von meinen Kindern. Auch daruͤber find’ ich mich gezwungen, die reine Wahrheit zu ſagen; Zeitgenoſſen und Nachkoͤmmlin- ge moͤgen daraus ſchlieſſen was ſie wollen. Noch ſuch’ ich mich naͤmlich ſogar zu bereden, jene fantaſtiſchen Hirnbruten ſeyen am End ganz unſuͤndlich — weil

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/276
Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/276>, abgerufen am 22.11.2024.