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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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Sittenrichter und Kritikus mußt' es seyn, der alle
meine Schritt' und Tritte beobachtete, und mir täg-
lich Vorwürfe machte. Das hieß mich, auch täg-
lich, auf meine Handlungen Achtung geben, mein Herz
erforschen, meine Absichten und Gesinnungen prü-
fen, was wahr oder falsch, gut oder böse gemeint sey.
Solch ein Zuchtmeister mußt' es seyn, der alle mei-
ne Schwachheiten mit den schwärzesten Farben schilder-
te, so wie ich hingegen geneigt war, dieselben, wo nicht
für kreidenweiß, doch für grau anzusehn. Solch ei-
nen Arzt braucht' ich, der alle meine Schaden nicht
nur aufdeckte -- sondern auch vergrösserte, und bis-
weilen selbst die minder wichtigen für höchst gefähr-
lich ausgab; die mir, freylich stinkende, beissende
Pillen, frisch vom Stecken weg, und noch mit einem
Grenadierton unter die Nase rieb, daß die Wände
zitterten. Dadurch lernt' ich, zu dem einzigen Arzt
meine Zuflucht nehmen, der mir dauerhaft helfen
konnte, mich im Stillen vor ihm auf die Kniee wer-
fen, und bitten: Herr! Du allein kennest alle meine
Gebrechen; vergieb, und heile auch meine verborge-
nen Fehler! Solch eine Betmutter endlich, die be-
ten, und mitten im Beten auffahren und eins los-
ziehen konnte, mußt' es seyn, die mich -- beten
lehrte, und mir allen Hang zu frömmelnder Schwär-
merey benahm. -- Und nun genug, lieber Nachkömling!
Du siehst, daß ich meiner Frau alle Gerechtigkeit wie-
derfahren lasse, und sie ehre wie man einen geschickten Arzt
zu ehren pflegt, über den man wohl bis weilen ein Bischen
böse thun, aber ihm doch nie im Herzen recht ungut seyn

Sittenrichter und Kritikus mußt’ es ſeyn, der alle
meine Schritt’ und Tritte beobachtete, und mir taͤg-
lich Vorwuͤrfe machte. Das hieß mich, auch taͤg-
lich, auf meine Handlungen Achtung geben, mein Herz
erforſchen, meine Abſichten und Geſinnungen pruͤ-
fen, was wahr oder falſch, gut oder boͤſe gemeint ſey.
Solch ein Zuchtmeiſter mußt’ es ſeyn, der alle mei-
ne Schwachheiten mit den ſchwaͤrzeſten Farben ſchilder-
te, ſo wie ich hingegen geneigt war, dieſelben, wo nicht
fuͤr kreidenweiß, doch fuͤr grau anzuſehn. Solch ei-
nen Arzt braucht’ ich, der alle meine Schaden nicht
nur aufdeckte — ſondern auch vergroͤſſerte, und bis-
weilen ſelbſt die minder wichtigen fuͤr hoͤchſt gefaͤhr-
lich ausgab; die mir, freylich ſtinkende, beiſſende
Pillen, friſch vom Stecken weg, und noch mit einem
Grenadierton unter die Naſe rieb, daß die Waͤnde
zitterten. Dadurch lernt’ ich, zu dem einzigen Arzt
meine Zuflucht nehmen, der mir dauerhaft helfen
konnte, mich im Stillen vor ihm auf die Kniee wer-
fen, und bitten: Herr! Du allein kenneſt alle meine
Gebrechen; vergieb, und heile auch meine verborge-
nen Fehler! Solch eine Betmutter endlich, die be-
ten, und mitten im Beten auffahren und eins los-
ziehen konnte, mußt’ es ſeyn, die mich — beten
lehrte, und mir allen Hang zu froͤmmelnder Schwaͤr-
merey benahm. -- Und nun genug, lieber Nachkoͤmling!
Du ſiehſt, daß ich meiner Frau alle Gerechtigkeit wie-
derfahren laſſe, und ſie ehre wie man einen geſchickten Arzt
zu ehren pflegt, uͤber den man wohl bis weilen ein Bischen
boͤſe thun, aber ihm doch nie im Herzen recht ungut ſeyn

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[253/0269] Sittenrichter und Kritikus mußt’ es ſeyn, der alle meine Schritt’ und Tritte beobachtete, und mir taͤg- lich Vorwuͤrfe machte. Das hieß mich, auch taͤg- lich, auf meine Handlungen Achtung geben, mein Herz erforſchen, meine Abſichten und Geſinnungen pruͤ- fen, was wahr oder falſch, gut oder boͤſe gemeint ſey. Solch ein Zuchtmeiſter mußt’ es ſeyn, der alle mei- ne Schwachheiten mit den ſchwaͤrzeſten Farben ſchilder- te, ſo wie ich hingegen geneigt war, dieſelben, wo nicht fuͤr kreidenweiß, doch fuͤr grau anzuſehn. Solch ei- nen Arzt braucht’ ich, der alle meine Schaden nicht nur aufdeckte — ſondern auch vergroͤſſerte, und bis- weilen ſelbſt die minder wichtigen fuͤr hoͤchſt gefaͤhr- lich ausgab; die mir, freylich ſtinkende, beiſſende Pillen, friſch vom Stecken weg, und noch mit einem Grenadierton unter die Naſe rieb, daß die Waͤnde zitterten. Dadurch lernt’ ich, zu dem einzigen Arzt meine Zuflucht nehmen, der mir dauerhaft helfen konnte, mich im Stillen vor ihm auf die Kniee wer- fen, und bitten: Herr! Du allein kenneſt alle meine Gebrechen; vergieb, und heile auch meine verborge- nen Fehler! Solch eine Betmutter endlich, die be- ten, und mitten im Beten auffahren und eins los- ziehen konnte, mußt’ es ſeyn, die mich — beten lehrte, und mir allen Hang zu froͤmmelnder Schwaͤr- merey benahm. -- Und nun genug, lieber Nachkoͤmling! Du ſiehſt, daß ich meiner Frau alle Gerechtigkeit wie- derfahren laſſe, und ſie ehre wie man einen geſchickten Arzt zu ehren pflegt, uͤber den man wohl bis weilen ein Bischen boͤſe thun, aber ihm doch nie im Herzen recht ungut ſeyn

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/269>, abgerufen am 22.11.2024.