Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite
pbo_080.001
Schwerfälligen Wahn, der platt wie er ist | den begeisterten pbo_080.002
Schwärmer sogar noch
pbo_080.003
Will spielen, wie einst in die Saiten Apolls | des Silens Maulesel pbo_080.004
hineingriff:
pbo_080.005
Wenn streng der Poet ihn strafte, verdient | er den Dank und pbo_080.006
die Liebe der Mitwelt.

pbo_080.007
Doch wird niemand diese ungeschlachte Verszusammenfügung pbo_080.008
im Ernst für ein metrisches Muster nehmen.

pbo_080.009
§ 54. Freie Versformen.

pbo_080.010
Wir haben nur historisch bekannte und auffallende Verstypen pbo_080.011
geben wollen. Dem Formensinn ist für das Schwingungsmoment, pbo_080.012
das er jeweilig in der Versreihe verkörpern will, pbo_080.013
nichts verboten und alles erlaubt. Er kann vom Eintakter, pbo_080.014
ja von bloßen Taktfragmenten in der Reihe bis zu der größten pbo_080.015
Ausdehnung gehen, welche die Versreihe in Hinsicht auf Atem pbo_080.016
und Uebersicht verträgt. Meistersingerische Aufzählung solcher pbo_080.017
"Töne" steht der Poetik übel, wie den Dichtern ihre gezierte pbo_080.018
und gesuchte Anwendung. Muster reichen und dabei stets pbo_080.019
treffenden, ungesuchten Formenspiels ist selbst in der Zeit des pbo_080.020
damit bloß prunkenden Minnesangs Walther von der pbo_080.021
Vogelweide
*), unter den äußerlichen Versvirtuosen des pbo_080.022
17. Jahrhunderts Paul Fleming**), in unserer Zeit, pbo_080.023
nachdem die Romantik das romanische Versklangspiel wieder pbo_080.024
angeregt hat, besser, als der oft überkünstliche Formschwelger pbo_080.025
Rückert, Eduard Mörike mit seiner Kunst, die freie pbo_080.026
Gleichform des Volkslieds gleichsam in rhythmischen Momentbildern pbo_080.027
auseinanderzulegen. So in dem bekannten Liede des

*) pbo_080.028
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 23. Walter von der Vogelweide. pbo_080.029
Vgl. den Wechsel der Verszeilen dort z. B. in No. 13, 35.
**) pbo_080.030
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Kirchenlied und Volkslied. pbo_080.031
S. 20 f.
pbo_080.001
Schwerfälligen Wahn, der platt wie er ist | den begeisterten pbo_080.002
Schwärmer sogar noch
pbo_080.003
Will spielen, wie einst in die Saiten Apolls | des Silens Maulesel pbo_080.004
hineingriff:
pbo_080.005
Wenn streng der Poet ihn strafte, verdient | er den Dank und pbo_080.006
die Liebe der Mitwelt.

pbo_080.007
Doch wird niemand diese ungeschlachte Verszusammenfügung pbo_080.008
im Ernst für ein metrisches Muster nehmen.

pbo_080.009
§ 54. Freie Versformen.

pbo_080.010
Wir haben nur historisch bekannte und auffallende Verstypen pbo_080.011
geben wollen. Dem Formensinn ist für das Schwingungsmoment, pbo_080.012
das er jeweilig in der Versreihe verkörpern will, pbo_080.013
nichts verboten und alles erlaubt. Er kann vom Eintakter, pbo_080.014
ja von bloßen Taktfragmenten in der Reihe bis zu der größten pbo_080.015
Ausdehnung gehen, welche die Versreihe in Hinsicht auf Atem pbo_080.016
und Uebersicht verträgt. Meistersingerische Aufzählung solcher pbo_080.017
„Töne“ steht der Poetik übel, wie den Dichtern ihre gezierte pbo_080.018
und gesuchte Anwendung. Muster reichen und dabei stets pbo_080.019
treffenden, ungesuchten Formenspiels ist selbst in der Zeit des pbo_080.020
damit bloß prunkenden Minnesangs Walther von der pbo_080.021
Vogelweide
*), unter den äußerlichen Versvirtuosen des pbo_080.022
17. Jahrhunderts Paul Fleming**), in unserer Zeit, pbo_080.023
nachdem die Romantik das romanische Versklangspiel wieder pbo_080.024
angeregt hat, besser, als der oft überkünstliche Formschwelger pbo_080.025
Rückert, Eduard Mörike mit seiner Kunst, die freie pbo_080.026
Gleichform des Volkslieds gleichsam in rhythmischen Momentbildern pbo_080.027
auseinanderzulegen. So in dem bekannten Liede des

*) pbo_080.028
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 23. Walter von der Vogelweide. pbo_080.029
Vgl. den Wechsel der Verszeilen dort z. B. in No. 13, 35.
**) pbo_080.030
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Kirchenlied und Volkslied. pbo_080.031
S. 20 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0084" n="80"/>
              <lb n="pbo_080.001"/>
              <lg>
                <l>Schwerfälligen Wahn, der platt wie er ist | den begeisterten  <lb n="pbo_080.002"/>
Schwärmer sogar noch</l>
                <lb n="pbo_080.003"/>
                <l>Will spielen, wie einst in die Saiten Apolls | des Silens Maulesel  <lb n="pbo_080.004"/>
hineingriff:</l>
                <lb n="pbo_080.005"/>
                <l>Wenn streng der Poet ihn strafte, verdient | er den Dank und  <lb n="pbo_080.006"/>
die Liebe der Mitwelt.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pbo_080.007"/>
Doch wird niemand diese ungeschlachte Verszusammenfügung <lb n="pbo_080.008"/>
im Ernst für ein metrisches Muster nehmen.</p>
              <lb n="pbo_080.009"/>
            </div>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c">§ 54. Freie Versformen.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_080.010"/>
Wir haben nur historisch bekannte und auffallende Verstypen <lb n="pbo_080.011"/>
geben wollen. Dem Formensinn ist für das Schwingungsmoment, <lb n="pbo_080.012"/>
das er jeweilig in der Versreihe verkörpern will, <lb n="pbo_080.013"/>
nichts verboten und alles erlaubt. Er kann vom Eintakter, <lb n="pbo_080.014"/>
ja von bloßen Taktfragmenten in der Reihe bis zu der größten <lb n="pbo_080.015"/>
Ausdehnung gehen, welche die Versreihe in Hinsicht auf Atem <lb n="pbo_080.016"/>
und Uebersicht verträgt. Meistersingerische Aufzählung solcher <lb n="pbo_080.017"/>
&#x201E;Töne&#x201C; steht der Poetik übel, wie den Dichtern ihre gezierte <lb n="pbo_080.018"/>
und gesuchte Anwendung. Muster reichen und dabei stets <lb n="pbo_080.019"/>
treffenden, ungesuchten Formenspiels ist selbst in der Zeit des <lb n="pbo_080.020"/>
damit bloß prunkenden Minnesangs <hi rendition="#g">Walther von der <lb n="pbo_080.021"/>
Vogelweide</hi><note corresp="PBO_080_*" place="foot" n="*)"><lb n="pbo_080.028"/>
Vergl. <hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 23. Walter von der Vogelweide. <lb n="pbo_080.029"/>
Vgl. den Wechsel der Verszeilen dort z. B. in No. 13, 35.</note>, unter den äußerlichen Versvirtuosen des <lb n="pbo_080.022"/>
17. Jahrhunderts <hi rendition="#g">Paul Fleming</hi><note corresp="PBO_080_**" place="foot" n="**)"><lb n="pbo_080.030"/>
Vergl. <hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 25. Kirchenlied und Volkslied. <lb n="pbo_080.031"/>
S. 20 f.</note>, in unserer Zeit, <lb n="pbo_080.023"/>
nachdem die Romantik das romanische Versklangspiel wieder <lb n="pbo_080.024"/>
angeregt hat, besser, als der oft überkünstliche Formschwelger <lb n="pbo_080.025"/> <hi rendition="#g">Rückert, Eduard Mörike</hi> mit seiner Kunst, die freie <lb n="pbo_080.026"/>
Gleichform des Volkslieds gleichsam in rhythmischen Momentbildern <lb n="pbo_080.027"/>
auseinanderzulegen. So in dem bekannten Liede des
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0084] pbo_080.001 Schwerfälligen Wahn, der platt wie er ist | den begeisterten pbo_080.002 Schwärmer sogar noch pbo_080.003 Will spielen, wie einst in die Saiten Apolls | des Silens Maulesel pbo_080.004 hineingriff: pbo_080.005 Wenn streng der Poet ihn strafte, verdient | er den Dank und pbo_080.006 die Liebe der Mitwelt. pbo_080.007 Doch wird niemand diese ungeschlachte Verszusammenfügung pbo_080.008 im Ernst für ein metrisches Muster nehmen. pbo_080.009 § 54. Freie Versformen. pbo_080.010 Wir haben nur historisch bekannte und auffallende Verstypen pbo_080.011 geben wollen. Dem Formensinn ist für das Schwingungsmoment, pbo_080.012 das er jeweilig in der Versreihe verkörpern will, pbo_080.013 nichts verboten und alles erlaubt. Er kann vom Eintakter, pbo_080.014 ja von bloßen Taktfragmenten in der Reihe bis zu der größten pbo_080.015 Ausdehnung gehen, welche die Versreihe in Hinsicht auf Atem pbo_080.016 und Uebersicht verträgt. Meistersingerische Aufzählung solcher pbo_080.017 „Töne“ steht der Poetik übel, wie den Dichtern ihre gezierte pbo_080.018 und gesuchte Anwendung. Muster reichen und dabei stets pbo_080.019 treffenden, ungesuchten Formenspiels ist selbst in der Zeit des pbo_080.020 damit bloß prunkenden Minnesangs Walther von der pbo_080.021 Vogelweide *), unter den äußerlichen Versvirtuosen des pbo_080.022 17. Jahrhunderts Paul Fleming **), in unserer Zeit, pbo_080.023 nachdem die Romantik das romanische Versklangspiel wieder pbo_080.024 angeregt hat, besser, als der oft überkünstliche Formschwelger pbo_080.025 Rückert, Eduard Mörike mit seiner Kunst, die freie pbo_080.026 Gleichform des Volkslieds gleichsam in rhythmischen Momentbildern pbo_080.027 auseinanderzulegen. So in dem bekannten Liede des *) pbo_080.028 Vergl. Sammlung Göschen Nr. 23. Walter von der Vogelweide. pbo_080.029 Vgl. den Wechsel der Verszeilen dort z. B. in No. 13, 35. **) pbo_080.030 Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Kirchenlied und Volkslied. pbo_080.031 S. 20 f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/84
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/84>, abgerufen am 25.11.2024.