Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_071.001 pbo_071.002 pbo_071.003 Uns ist in alten maeren wunders vil geseit pbo_071.015 von helden lobebaeren von großer arbeit pbo_071.016 von fröuden, hochgezeiten von weinen und von klagen pbo_071.017 von küener recken streiten muget ir nu wunder hoeren sagen. pbo_071.018 Es stand vor alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr pbo_071.024 *) pbo_071.027
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 10. Nibelungen und Gudrun. pbo_071.001 pbo_071.002 pbo_071.003 Uns íst in álten mǽren wúnders víl geséit pbo_071.015 von hélden lóbebǽren von grốʒer árbéit pbo_071.016 von fröúden, hốchgezî́ten von weínen únd von klágen pbo_071.017 von küéner récken strî́ten muget ír nu wúnder hœ́ren ságen. pbo_071.018 Es stand vor alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr pbo_071.024 *) pbo_071.027
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 10. Nibelungen und Gudrun. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0075" n="71"/> <p><lb n="pbo_071.001"/> W̄ohlan denn, w̄altender Gott<space dim="horizontal"/> W̄ehsal geschieht</p> <p><lb n="pbo_071.002"/> Jch wanderte S̄ommer und Winter<space dim="horizontal"/> s̄echzig außer Lande</p> <p><lb n="pbo_071.003"/> Daraus nun wurde nach dem oben erörterten taktischen <lb n="pbo_071.004"/> Ausbau ein Doppelvers von je drei Hebungen, der aber dadurch, <lb n="pbo_071.005"/> daß der erste Teil hyperkatalektisch ist (später auch durch <lb n="pbo_071.006"/> besonderen Reim) gegen die Zusammenziehung in <hi rendition="#g">einen</hi> Vers <lb n="pbo_071.007"/> von sechs Hebungen gesichert blieb. So tritt er uns in der <lb n="pbo_071.008"/> Strophe der alten Volksepen Nibelungen und Kudrun<note corresp="PBO_071_*" place="foot" n="*)"><lb n="pbo_071.027"/> Vergl. <hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 10. Nibelungen und Gudrun.</note> entgegen, <lb n="pbo_071.009"/> in welcher noch dazu der jemalige Schlußvers der <lb n="pbo_071.010"/> Strophen mit vier bezw. in der Kudrun fünf Hebungen die <lb n="pbo_071.011"/> alte Hebungsfreiheit im Gedächtnis halten zu wollen scheint. <lb n="pbo_071.012"/> Also die bekannte, schon mit Binnenreim ausgestattete Eingangsstrophe <lb n="pbo_071.013"/> des Nibelungenliedes:</p> <lb n="pbo_071.014"/> <lg> <l>Uns íst in álten mǽren<space dim="horizontal"/> wúnders víl geséit </l> <lb n="pbo_071.015"/> <l>von hélden lóbebǽren<space dim="horizontal"/> von grốʒer árbéit</l> <lb n="pbo_071.016"/> <l>von fröúden, hốchgezî́ten<space dim="horizontal"/> von weínen únd von klágen</l> <lb n="pbo_071.017"/> <l>von küéner récken strî́ten<space dim="horizontal"/> muget ír nu wúnder hœ́ren ságen.</l> </lg> <p><lb n="pbo_071.018"/> Die Erneuerer der alten Heldenstrophe in unserem Jahrhundert <lb n="pbo_071.019"/> (Uhland) hielten sich bis auf den letzten Vers, dessen <lb n="pbo_071.020"/> eigenwillige Hebungsüberzahl sie modernem Uniformbedürfnis <lb n="pbo_071.021"/> opferten, genau an dies Muster. Es erscheint jetzt im regulären <lb n="pbo_071.022"/> rhythmischen Gewande als Folge zweier jambischer Dreitakter:</p> <lb n="pbo_071.023"/> <lg> <l>Es stand vor alten Zeiten<space dim="horizontal"/> ein Schloß so hoch und hehr</l> </lg> <p><lb n="pbo_071.024"/> von denen jedoch der erste durch seine überzählige Silbe dafür <lb n="pbo_071.025"/> sorgt, daß er niemals mit dem folgenden zu einem Sechstakter <lb n="pbo_071.026"/> mit Diärese in der Mitte (Alexandriner) verschmelzen kann. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0075]
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W̄ohlan denn, w̄altender Gott W̄ehsal geschieht
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Jch wanderte S̄ommer und Winter s̄echzig außer Lande
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Daraus nun wurde nach dem oben erörterten taktischen pbo_071.004
Ausbau ein Doppelvers von je drei Hebungen, der aber dadurch, pbo_071.005
daß der erste Teil hyperkatalektisch ist (später auch durch pbo_071.006
besonderen Reim) gegen die Zusammenziehung in einen Vers pbo_071.007
von sechs Hebungen gesichert blieb. So tritt er uns in der pbo_071.008
Strophe der alten Volksepen Nibelungen und Kudrun *) entgegen, pbo_071.009
in welcher noch dazu der jemalige Schlußvers der pbo_071.010
Strophen mit vier bezw. in der Kudrun fünf Hebungen die pbo_071.011
alte Hebungsfreiheit im Gedächtnis halten zu wollen scheint. pbo_071.012
Also die bekannte, schon mit Binnenreim ausgestattete Eingangsstrophe pbo_071.013
des Nibelungenliedes:
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Uns íst in álten mǽren wúnders víl geséit pbo_071.015
von hélden lóbebǽren von grốʒer árbéit pbo_071.016
von fröúden, hốchgezî́ten von weínen únd von klágen pbo_071.017
von küéner récken strî́ten muget ír nu wúnder hœ́ren ságen.
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Die Erneuerer der alten Heldenstrophe in unserem Jahrhundert pbo_071.019
(Uhland) hielten sich bis auf den letzten Vers, dessen pbo_071.020
eigenwillige Hebungsüberzahl sie modernem Uniformbedürfnis pbo_071.021
opferten, genau an dies Muster. Es erscheint jetzt im regulären pbo_071.022
rhythmischen Gewande als Folge zweier jambischer Dreitakter:
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Es stand vor alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr
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von denen jedoch der erste durch seine überzählige Silbe dafür pbo_071.025
sorgt, daß er niemals mit dem folgenden zu einem Sechstakter pbo_071.026
mit Diärese in der Mitte (Alexandriner) verschmelzen kann.
*) pbo_071.027
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 10. Nibelungen und Gudrun.
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Zitationshilfe: | Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/75>, abgerufen am 29.07.2024. |