pbo_056.001 Doch war man feinhörig genug, zu Trägern so starker Betonung pbo_056.002 auch immer nur metrisch lange Silben auszuwählen, pbo_056.003 d. h. solche mit langem Vokal oder gehäuftem Konsonantenschluß. pbo_056.004 Das alte Deutsch verfügte nämlich noch über eine pbo_056.005 Menge kurzer Stammsilben, die eben durch die schwere Betonung pbo_056.006 im Laufe der Zeit gleichsam ausgeweitet, lang geworden pbo_056.007 sind.
pbo_056.008 Also Tnage, Knlage, nicht mehr: tage klage.
pbo_056.009
§ 44. Nachahmung der antiken Metrik im Deutschen.
pbo_056.010 Man sieht also, daß es im älteren Deutsch, namentlich pbo_056.011 in dem noch mit sehr vielen nebeneinander liegenden (heute pbo_056.012 verschliffenen) kurzen Ableitungssilben versehenen Althochdeutsch pbo_056.013 ganz leicht war, antike metrische Verse zu bauen. Gleichwohl pbo_056.014 unterließ man es keineswegs bloß aus "mönchischer und pbo_056.015 barbarischer Unwissenheit", sondern weil man über das Bedürfnis pbo_056.016 der strengen Stammsilbenbetonung auch im Verse pbo_056.017 nicht hinwegkonnte. Die humanistischen Schulmeister der pbo_056.018 Renaissancezeit, die hochmütig auf "die alte Reimerei" herabsahen, pbo_056.019 verfehlten es grade, da sie sich darüber hinwegzusetzen pbo_056.020 wagten zu einer Zeit, wo der Bestand an kurzen Silben, zumal pbo_056.021 neben einander liegenden, schon stark zusammengeschmolzen, pbo_056.022 beziehungsweise geschwunden war. Jhre Mißbetonung:
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Es macht allneinnig dner Glaub' dnie Gläubigen snelig ..pbo_056.024 Allwneg im MMensnchen snchafft er knein MMüssen bei ihm ist &c.;pbo_056.026 Ein Vogel hnoch snchwebnet, dner nnicht wnie andere lnebet.
pbo_056.027 wie das Außerachtlassen der festen Betonung dem deutschen pbo_056.028 Ohre nun einmal erscheint, wurde also nicht einmal mehr
pbo_056.001 Doch war man feinhörig genug, zu Trägern so starker Betonung pbo_056.002 auch immer nur metrisch lange Silben auszuwählen, pbo_056.003 d. h. solche mit langem Vokal oder gehäuftem Konsonantenschluß. pbo_056.004 Das alte Deutsch verfügte nämlich noch über eine pbo_056.005 Menge kurzer Stammsilben, die eben durch die schwere Betonung pbo_056.006 im Laufe der Zeit gleichsam ausgeweitet, lang geworden pbo_056.007 sind.
pbo_056.008 Also T̄́age, K̄́lage, nicht mehr: t̆́age ̆́klage.
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§ 44. Nachahmung der antiken Metrik im Deutschen.
pbo_056.010 Man sieht also, daß es im älteren Deutsch, namentlich pbo_056.011 in dem noch mit sehr vielen nebeneinander liegenden (heute pbo_056.012 verschliffenen) kurzen Ableitungssilben versehenen Althochdeutsch pbo_056.013 ganz leicht war, antike metrische Verse zu bauen. Gleichwohl pbo_056.014 unterließ man es keineswegs bloß aus „mönchischer und pbo_056.015 barbarischer Unwissenheit“, sondern weil man über das Bedürfnis pbo_056.016 der strengen Stammsilbenbetonung auch im Verse pbo_056.017 nicht hinwegkonnte. Die humanistischen Schulmeister der pbo_056.018 Renaissancezeit, die hochmütig auf „die alte Reimerei“ herabsahen, pbo_056.019 verfehlten es grade, da sie sich darüber hinwegzusetzen pbo_056.020 wagten zu einer Zeit, wo der Bestand an kurzen Silben, zumal pbo_056.021 neben einander liegenden, schon stark zusammengeschmolzen, pbo_056.022 beziehungsweise geschwunden war. Jhre Mißbetonung:
pbo_056.027 wie das Außerachtlassen der festen Betonung dem deutschen pbo_056.028 Ohre nun einmal erscheint, wurde also nicht einmal mehr
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Doch war man feinhörig genug, zu Trägern so starker Betonung pbo_056.002
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im Laufe der Zeit gleichsam ausgeweitet, lang geworden pbo_056.007
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Also T̄́age, K̄́lage, nicht mehr: t̆́age ̆́klage.
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Man sieht also, daß es im älteren Deutsch, namentlich pbo_056.011
in dem noch mit sehr vielen nebeneinander liegenden (heute pbo_056.012
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verfehlten es grade, da sie sich darüber hinwegzusetzen pbo_056.020
wagten zu einer Zeit, wo der Bestand an kurzen Silben, zumal pbo_056.021
neben einander liegenden, schon stark zusammengeschmolzen, pbo_056.022
beziehungsweise geschwunden war. Jhre Mißbetonung:
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Ḗs m̆acht ā́ll̄ein̄́ig d̄er Ḡ́laub' d̄ie Ḡ́läub̆iğen s̄el̆ig .. pbo_056.024
Ā́llw̄eg ī́m M̄ens̄́chen s̄chafft ḗr k̄ein M̄́üss̆en b̆ei īhm ĭst &c.; pbo_056.026
Ēin V̆oğel h̄́och s̄chweb̄́et, d̄er n̄́icht w̄ie ānd̆er̆e l̄eb̆et.
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/60>, abgerufen am 16.02.2025.
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