Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_034.001
unter allen Umständen auch die betreffende (ägyptische, indische, pbo_034.002
iranische u. s. w.) Mythologie, und sei es selbst die entlegenste pbo_034.003
(wie etwa die mexikanische oder peruanische) handhaben müssen. pbo_034.004
Die Poetik kann hierbei höchstens vor Geschmacklosigkeiten pbo_034.005
warnen, zu denen die kritiklose Ausnutzung solcher Kulte mit pbo_034.006
fremden, zuweilen abenteuerlichen Namen verführen könnte. pbo_034.007
Etwas anderes aber ist es, wenn durch ausschließliche Bevorzugung pbo_034.008
solcher Stoffgebiete Mythologien Anspruch auf Festsetzung pbo_034.009
im poetischen Bewußtsein erheben. Darin nämlich besteht pbo_034.010
die ursprüngliche poetische Bedeutung der Mythologie. Wenn pbo_034.011
bei Homer Zeus grollend die ambrosischen Locken schüttelt oder pbo_034.012
die rosenfingrige Eos die Thore des Himmels öffnet, so verbinden pbo_034.013
sich damit für jede gebildete Anschauung unmittelbare pbo_034.014
Vorstellungen von Natureindrücken (des Donners, der Morgenröte). pbo_034.015
Nirgends so wie in der klassischen Dichtung steht die pbo_034.016
poetische Bedeutung der Mythologie vor ihrer religiösen so pbo_034.017
völlig im Vordergrund, so daß man sich nicht wundern kann, pbo_034.018
wenn seit der Renaissance die Dichter sie auch in spezifisch pbo_034.019
religiösen Gedichten christlichen Jnhalts ganz unbefangen anwenden pbo_034.020
(Sannazaros Epos über die Geburt der Jungfrau, pbo_034.021
aber in Ansätzen auch schon bei Dante und später bei Tasso). pbo_034.022
Hier finden wir das mythologische Bild in dichter Fühlung pbo_034.023
schon mit dem allgemein poetischen Bilde, dem Tropus (vom pbo_034.024
griechischen trepo wenden).

pbo_034.025
Kapitel 3. Vergleichung (Tropen).
pbo_034.026
§ 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses.

pbo_034.027
Der Dichter beruhigt sich nicht bei dem bloßen Naturphänomen, pbo_034.028
wie es die äußere Wahrnehmung an die Hand pbo_034.029
giebt. Seine Anschauung ist sofort bereit, es auf ein Aehnliches

pbo_034.001
unter allen Umständen auch die betreffende (ägyptische, indische, pbo_034.002
iranische u. s. w.) Mythologie, und sei es selbst die entlegenste pbo_034.003
(wie etwa die mexikanische oder peruanische) handhaben müssen. pbo_034.004
Die Poetik kann hierbei höchstens vor Geschmacklosigkeiten pbo_034.005
warnen, zu denen die kritiklose Ausnutzung solcher Kulte mit pbo_034.006
fremden, zuweilen abenteuerlichen Namen verführen könnte. pbo_034.007
Etwas anderes aber ist es, wenn durch ausschließliche Bevorzugung pbo_034.008
solcher Stoffgebiete Mythologien Anspruch auf Festsetzung pbo_034.009
im poetischen Bewußtsein erheben. Darin nämlich besteht pbo_034.010
die ursprüngliche poetische Bedeutung der Mythologie. Wenn pbo_034.011
bei Homer Zeus grollend die ambrosischen Locken schüttelt oder pbo_034.012
die rosenfingrige Eos die Thore des Himmels öffnet, so verbinden pbo_034.013
sich damit für jede gebildete Anschauung unmittelbare pbo_034.014
Vorstellungen von Natureindrücken (des Donners, der Morgenröte). pbo_034.015
Nirgends so wie in der klassischen Dichtung steht die pbo_034.016
poetische Bedeutung der Mythologie vor ihrer religiösen so pbo_034.017
völlig im Vordergrund, so daß man sich nicht wundern kann, pbo_034.018
wenn seit der Renaissance die Dichter sie auch in spezifisch pbo_034.019
religiösen Gedichten christlichen Jnhalts ganz unbefangen anwenden pbo_034.020
(Sannazaros Epos über die Geburt der Jungfrau, pbo_034.021
aber in Ansätzen auch schon bei Dante und später bei Tasso). pbo_034.022
Hier finden wir das mythologische Bild in dichter Fühlung pbo_034.023
schon mit dem allgemein poetischen Bilde, dem Tropus (vom pbo_034.024
griechischen τρέπω wenden).

pbo_034.025
Kapitel 3. Vergleichung (Tropen).
pbo_034.026
§ 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses.

pbo_034.027
Der Dichter beruhigt sich nicht bei dem bloßen Naturphänomen, pbo_034.028
wie es die äußere Wahrnehmung an die Hand pbo_034.029
giebt. Seine Anschauung ist sofort bereit, es auf ein Aehnliches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0038" n="34"/><lb n="pbo_034.001"/>
unter allen Umständen auch die betreffende (ägyptische, indische, <lb n="pbo_034.002"/>
iranische u. s. w.) Mythologie, und sei es selbst die entlegenste <lb n="pbo_034.003"/>
(wie etwa die mexikanische oder peruanische) handhaben müssen. <lb n="pbo_034.004"/>
Die Poetik kann hierbei höchstens vor Geschmacklosigkeiten <lb n="pbo_034.005"/>
warnen, zu denen die kritiklose Ausnutzung solcher Kulte mit <lb n="pbo_034.006"/>
fremden, zuweilen abenteuerlichen Namen verführen könnte. <lb n="pbo_034.007"/>
Etwas anderes aber ist es, wenn durch ausschließliche Bevorzugung <lb n="pbo_034.008"/>
solcher Stoffgebiete Mythologien Anspruch auf Festsetzung <lb n="pbo_034.009"/>
im poetischen Bewußtsein erheben. Darin nämlich besteht <lb n="pbo_034.010"/>
die ursprüngliche poetische Bedeutung der Mythologie. Wenn <lb n="pbo_034.011"/>
bei Homer Zeus grollend die ambrosischen Locken schüttelt oder <lb n="pbo_034.012"/>
die rosenfingrige Eos die Thore des Himmels öffnet, so verbinden <lb n="pbo_034.013"/>
sich damit für jede gebildete Anschauung unmittelbare <lb n="pbo_034.014"/>
Vorstellungen von Natureindrücken (des Donners, der Morgenröte). <lb n="pbo_034.015"/>
Nirgends so wie in der klassischen Dichtung steht die <lb n="pbo_034.016"/>
poetische Bedeutung der Mythologie vor ihrer religiösen so <lb n="pbo_034.017"/>
völlig im Vordergrund, so daß man sich nicht wundern kann, <lb n="pbo_034.018"/>
wenn seit der Renaissance die Dichter sie auch in spezifisch <lb n="pbo_034.019"/>
religiösen Gedichten christlichen Jnhalts ganz unbefangen anwenden <lb n="pbo_034.020"/>
(Sannazaros Epos über die Geburt der Jungfrau, <lb n="pbo_034.021"/>
aber in Ansätzen auch schon bei Dante und später bei Tasso). <lb n="pbo_034.022"/>
Hier finden wir das mythologische Bild in dichter Fühlung <lb n="pbo_034.023"/>
schon mit dem allgemein poetischen Bilde, dem <hi rendition="#g">Tropus</hi> (vom <lb n="pbo_034.024"/>
griechischen <foreign xml:lang="grc">&#x03C4;&#x03C1;&#x03AD;&#x03C0;&#x03C9;</foreign> wenden).</p>
              <lb n="pbo_034.025"/>
            </div>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c">Kapitel 3. Vergleichung (Tropen).</hi> </head>
            <lb n="pbo_034.026"/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c">§ 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_034.027"/>
Der Dichter beruhigt sich nicht bei dem bloßen Naturphänomen, <lb n="pbo_034.028"/>
wie es die äußere Wahrnehmung an die Hand <lb n="pbo_034.029"/>
giebt. Seine Anschauung ist sofort bereit, es auf ein Aehnliches
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[34/0038] pbo_034.001 unter allen Umständen auch die betreffende (ägyptische, indische, pbo_034.002 iranische u. s. w.) Mythologie, und sei es selbst die entlegenste pbo_034.003 (wie etwa die mexikanische oder peruanische) handhaben müssen. pbo_034.004 Die Poetik kann hierbei höchstens vor Geschmacklosigkeiten pbo_034.005 warnen, zu denen die kritiklose Ausnutzung solcher Kulte mit pbo_034.006 fremden, zuweilen abenteuerlichen Namen verführen könnte. pbo_034.007 Etwas anderes aber ist es, wenn durch ausschließliche Bevorzugung pbo_034.008 solcher Stoffgebiete Mythologien Anspruch auf Festsetzung pbo_034.009 im poetischen Bewußtsein erheben. Darin nämlich besteht pbo_034.010 die ursprüngliche poetische Bedeutung der Mythologie. Wenn pbo_034.011 bei Homer Zeus grollend die ambrosischen Locken schüttelt oder pbo_034.012 die rosenfingrige Eos die Thore des Himmels öffnet, so verbinden pbo_034.013 sich damit für jede gebildete Anschauung unmittelbare pbo_034.014 Vorstellungen von Natureindrücken (des Donners, der Morgenröte). pbo_034.015 Nirgends so wie in der klassischen Dichtung steht die pbo_034.016 poetische Bedeutung der Mythologie vor ihrer religiösen so pbo_034.017 völlig im Vordergrund, so daß man sich nicht wundern kann, pbo_034.018 wenn seit der Renaissance die Dichter sie auch in spezifisch pbo_034.019 religiösen Gedichten christlichen Jnhalts ganz unbefangen anwenden pbo_034.020 (Sannazaros Epos über die Geburt der Jungfrau, pbo_034.021 aber in Ansätzen auch schon bei Dante und später bei Tasso). pbo_034.022 Hier finden wir das mythologische Bild in dichter Fühlung pbo_034.023 schon mit dem allgemein poetischen Bilde, dem Tropus (vom pbo_034.024 griechischen τρέπω wenden). pbo_034.025 Kapitel 3. Vergleichung (Tropen). pbo_034.026 § 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses. pbo_034.027 Der Dichter beruhigt sich nicht bei dem bloßen Naturphänomen, pbo_034.028 wie es die äußere Wahrnehmung an die Hand pbo_034.029 giebt. Seine Anschauung ist sofort bereit, es auf ein Aehnliches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/38
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/38>, abgerufen am 22.11.2024.