pbo_018.001 rohe Formlosigkeit und Zerrissenheit, die Barbarei, ist geblieben.
pbo_018.002
pbo_018.003 Nichtsdestoweniger bleibt die Romantik von allen spezifisch pbo_018.004 modernen Kunstrichtungen die einfluß- und verdienstreichste. pbo_018.005 Sie hat am eindringlichsten und nachhaltigsten den Blick auf pbo_018.006 die schlichten, innigen und großen Gebilde volksmäßigen pbo_018.007 Charakters gelenkt, die zwar der bewußten, ausgebildeten Kunst pbo_018.008 entbehren, in der Unbeholfenheit und Schmucklosigkeit ihres pbo_018.009 Ausdruckes aber ihren großen Jnhalt nur um so stärker hervortreten pbo_018.010 lassen. Die alten Heldengedichte der neueren Völker pbo_018.011 (bei den Deutschen Nibelungen und Kudrun), das Volkslied pbo_018.012 und Volksbuch, Mährchen und Sage, sind seitdem von pbo_018.013 dem Banne der klassischen Verachtung gelöst, die sie unbillig pbo_018.014 zu ihrem Nachteil mit der Blüte einer glücklicheren Kunstübung pbo_018.015 bei den Griechen (Homer) verglich. Jedoch soll man pbo_018.016 nun auch das Verhältnis nicht umkehren, und auf Grund des pbo_018.017 Unvollkommneren, weil es sich nun seine Geltung erobert pbo_018.018 hat, das Vollkommnere verachten.
pbo_018.019 § 12. Naturpoesie und Kunstpoesie.
pbo_018.020 Ob man nun gegenüber diesen Scheidungen auch noch pbo_018.021 einen Gegensatz der Dichtung gegen sich selbst als Kunst, den pbo_018.022 Begriff einer besonderen Naturpoesie einführen dürfe, ist pbo_018.023 schwer und nur unter vielen Einschränkungen einzuräumen. pbo_018.024 Natur und Kunst sind keine Gegensätze (Goethe: "Natur und pbo_018.025 Kunst sie scheinen sich zu fliehen -- und haben sich, eh' man pbo_018.026 es denkt, gefunden"), sondern im reinen, wissenschaftlichen pbo_018.027 Begriffe ist die Kunst nur der höchste, notwendige Ausdruck pbo_018.028 der Natur. Die Willkür der zufälligen Naturerscheinung, das pbo_018.029 Gewöhnliche, das Gemeine giebt uns nicht die Natur selbst, pbo_018.030 sondern nur ihren Schatten. Die Kunst hebt jene Schattenhülle,
pbo_018.001 rohe Formlosigkeit und Zerrissenheit, die Barbarei, ist geblieben.
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pbo_018.019 § 12. Naturpoesie und Kunstpoesie.
pbo_018.020 Ob man nun gegenüber diesen Scheidungen auch noch pbo_018.021 einen Gegensatz der Dichtung gegen sich selbst als Kunst, den pbo_018.022 Begriff einer besonderen Naturpoesie einführen dürfe, ist pbo_018.023 schwer und nur unter vielen Einschränkungen einzuräumen. pbo_018.024 Natur und Kunst sind keine Gegensätze (Goethe: „Natur und pbo_018.025 Kunst sie scheinen sich zu fliehen — und haben sich, eh' man pbo_018.026 es denkt, gefunden“), sondern im reinen, wissenschaftlichen pbo_018.027 Begriffe ist die Kunst nur der höchste, notwendige Ausdruck pbo_018.028 der Natur. Die Willkür der zufälligen Naturerscheinung, das pbo_018.029 Gewöhnliche, das Gemeine giebt uns nicht die Natur selbst, pbo_018.030 sondern nur ihren Schatten. Die Kunst hebt jene Schattenhülle,
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Ob man nun gegenüber diesen Scheidungen auch noch pbo_018.021
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/22>, abgerufen am 16.02.2025.
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