pbo_012.001 als Vernunft angesprochen wird. Wenn dem Dichter in pbo_012.002 seiner alles verkörpernden, das Ueberschwengliche und Unmögliche pbo_012.003 begreifenden Phantasie eine verhängnißvolle Gabe vor pbo_012.004 allen zu Teil ward, so ward ihm entsprechend ihrer Höhe pbo_012.005 auch das Gegenmittel einer unbestechlichen, alles ordnenden pbo_012.006 und zurechtsetzenden Vernunft. Wo diese richtende, einschränkende pbo_012.007 Vernunft fehlt oder von eigenwilliger, launischer, pbo_012.008 modischer Phantastik überwuchert wird, da fehlt eben auch pbo_012.009 nach unserer Schätzung die geniale Qualifikation, oder sie pbo_012.010 ward eben dadurch zu nichte gemacht (Stürmer und Dränger, pbo_012.011 "Originalgenies", Naturen wie in Deutschland Lenz, Grabbe pbo_012.012 u. a.). Daß Krankheit, Schicksal, Schuld den Dichter wie pbo_012.013 jeden andern Sterblichen dem Wahnsinn überliefern können, pbo_012.014 beweist nicht im mindesten, daß er als Dichter wahnsinnig pbo_012.015 werden muß. Alle in diesem Sinne angestellten Sammlungen pbo_012.016 von Anekdoten, Zügen aus dem Leben genialer pbo_012.017 Menschen, Statistiken u. dgl. sind unter dem angegebenen pbo_012.018 Gesichtspunkt zu beurteilen.
pbo_012.019 § 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze.
pbo_012.020 Entsprechend ihrem Charakter als allgemein geistige pbo_012.021 Grundfähigkeit wird die Dichtung in ihrer Erscheinungsweise pbo_012.022 auch alle Grundgegensätze der menschlichen Natur besonders pbo_012.023 kenntlich zum Ausdruck bringen. Zunächst treten die Temperamentsunterschiede pbo_012.024 hervor. Die großen Gegensätze des pbo_012.025 Tragischen und des Komischen, des Pathetischen und pbo_012.026 des Jdyllischen, des Jubilierenden und des Elegischen,pbo_012.027 des Satirischen und des Panegyrischen spiegeln die pbo_012.028 Grundstimmungen der Temperamente, des melancholischen und pbo_012.029 sanguinischen, des cholerischen und phlegmatischen, in wechselnder pbo_012.030 Bedeutung wieder.
pbo_012.001 als Vernunft angesprochen wird. Wenn dem Dichter in pbo_012.002 seiner alles verkörpernden, das Ueberschwengliche und Unmögliche pbo_012.003 begreifenden Phantasie eine verhängnißvolle Gabe vor pbo_012.004 allen zu Teil ward, so ward ihm entsprechend ihrer Höhe pbo_012.005 auch das Gegenmittel einer unbestechlichen, alles ordnenden pbo_012.006 und zurechtsetzenden Vernunft. Wo diese richtende, einschränkende pbo_012.007 Vernunft fehlt oder von eigenwilliger, launischer, pbo_012.008 modischer Phantastik überwuchert wird, da fehlt eben auch pbo_012.009 nach unserer Schätzung die geniale Qualifikation, oder sie pbo_012.010 ward eben dadurch zu nichte gemacht (Stürmer und Dränger, pbo_012.011 „Originalgenies“, Naturen wie in Deutschland Lenz, Grabbe pbo_012.012 u. a.). Daß Krankheit, Schicksal, Schuld den Dichter wie pbo_012.013 jeden andern Sterblichen dem Wahnsinn überliefern können, pbo_012.014 beweist nicht im mindesten, daß er als Dichter wahnsinnig pbo_012.015 werden muß. Alle in diesem Sinne angestellten Sammlungen pbo_012.016 von Anekdoten, Zügen aus dem Leben genialer pbo_012.017 Menschen, Statistiken u. dgl. sind unter dem angegebenen pbo_012.018 Gesichtspunkt zu beurteilen.
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/16>, abgerufen am 16.02.2025.
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