pbo_140.001 müsse. Dies schadete dem Selbstrecht der Poesie und der sehr pbo_140.002 besonderen geistigen Stellung des Dichters als Künstler. Es pbo_140.003 führte zu der seltsamen Meinung, in der vorgeblichen festen pbo_140.004 poetischen Form der Didaktik und mit der Autorität philosophisch pbo_140.005 begeisterter Alten (Lucrez, de natura deorum) alles pbo_140.006 Mögliche aus allen möglichen Lehrfächern bis zur Kuhpockenimpfung pbo_140.007 poetisch zu behandeln. Die Poesie ist nicht die Sprache pbo_140.008 des Kompendiums, und in diesem Verstande giebt es keine pbo_140.009 Lehrdichtung für die Poetik. Wohl aber ist die Wahrheitpbo_140.010 und ihr Diener, der Gedanke, für den Poeten da. pbo_140.011 Jn diesem Sinne sind Ausdrücke wie "Gedankendichtung" pbo_140.012 (besonders in der Form der "Gedankenlyrik") ein für den pbo_140.013 Dichter keineswegs schmeichelhafter Unsinn, da sie es so darstellen, pbo_140.014 als ob Denken und Dichten Gegensätze und ein Dichten pbo_140.015 mit Gedanken nur ein zufälliger besonderer Umstand sei.
pbo_140.016
§ 99. Dichter und Denker.
pbo_140.017 Nein, der Dichter denkt, wenn er einer ist. Er "denkt pbo_140.018 den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal" wie der pbo_140.019 wissenschaftliche Denker. Nur denkt er ihn nicht abstrakt, pbo_140.020 methodisch und im historischen Verbande der gelehrten Tradition, pbo_140.021 sondern konkret, organisch und in seinem besonderen pbo_140.022 Sinne. Diesen seinen besonderen Sinn, den auch der originale pbo_140.023 Denker in die Wissenschaft hineinbringt, nur daß er ihn pbo_140.024 darin systematisch zum Ausdruck bringt, giebt ihm das tiefe pbo_140.025 Gefühl für die Einheit und Jdealität des Weltzusammenhanges, pbo_140.026 jenes besondere Organ, aus dem nach jenem Franzosen pbo_140.027 auch "die großen Gedanken kommen": das Herz. Ein erhabenes pbo_140.028 Muster für die poetische Bewältigung selbst der abstraktesten pbo_140.029 Probleme des Gedankens giebt gerade in diesem pbo_140.030 Bezuge die philosophische Dichtung eines deutschen Dichters,
pbo_140.001 müsse. Dies schadete dem Selbstrecht der Poesie und der sehr pbo_140.002 besonderen geistigen Stellung des Dichters als Künstler. Es pbo_140.003 führte zu der seltsamen Meinung, in der vorgeblichen festen pbo_140.004 poetischen Form der Didaktik und mit der Autorität philosophisch pbo_140.005 begeisterter Alten (Lucrez, de natura deorum) alles pbo_140.006 Mögliche aus allen möglichen Lehrfächern bis zur Kuhpockenimpfung pbo_140.007 poetisch zu behandeln. Die Poesie ist nicht die Sprache pbo_140.008 des Kompendiums, und in diesem Verstande giebt es keine pbo_140.009 Lehrdichtung für die Poetik. Wohl aber ist die Wahrheitpbo_140.010 und ihr Diener, der Gedanke, für den Poeten da. pbo_140.011 Jn diesem Sinne sind Ausdrücke wie „Gedankendichtung“ pbo_140.012 (besonders in der Form der „Gedankenlyrik“) ein für den pbo_140.013 Dichter keineswegs schmeichelhafter Unsinn, da sie es so darstellen, pbo_140.014 als ob Denken und Dichten Gegensätze und ein Dichten pbo_140.015 mit Gedanken nur ein zufälliger besonderer Umstand sei.
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pbo_140.017 Nein, der Dichter denkt, wenn er einer ist. Er „denkt pbo_140.018 den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal“ wie der pbo_140.019 wissenschaftliche Denker. Nur denkt er ihn nicht abstrakt, pbo_140.020 methodisch und im historischen Verbande der gelehrten Tradition, pbo_140.021 sondern konkret, organisch und in seinem besonderen pbo_140.022 Sinne. Diesen seinen besonderen Sinn, den auch der originale pbo_140.023 Denker in die Wissenschaft hineinbringt, nur daß er ihn pbo_140.024 darin systematisch zum Ausdruck bringt, giebt ihm das tiefe pbo_140.025 Gefühl für die Einheit und Jdealität des Weltzusammenhanges, pbo_140.026 jenes besondere Organ, aus dem nach jenem Franzosen pbo_140.027 auch „die großen Gedanken kommen“: das Herz. Ein erhabenes pbo_140.028 Muster für die poetische Bewältigung selbst der abstraktesten pbo_140.029 Probleme des Gedankens giebt gerade in diesem pbo_140.030 Bezuge die philosophische Dichtung eines deutschen Dichters,
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/144>, abgerufen am 28.07.2024.
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