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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
der Vorzug lange zweifelhaft seyn; allein endlich wür-
de doch unter den Männern derjenige den Preiß erhal-
ten, bey dessen Landesleuten die verschiednen gymna-
stischen Uebungen am stärksten, und Verhältnißweise in
dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben wür-
den; und alle Männer würden mit einer Stimme die-
jenige für die schönste unter den Schönen erklären, die
von einem Volke abgeschikt worden, welches bey der
Erziehung der Töchter die möglichste Entwiklung und
Cultur der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte.
Der Spartaner würde also vermuthlich für den schön-
sten Mann, und die Perserin für das schönste Weib er-
klärt werden. Der Grieche, welcher der Anmuth den
Vorzug vor der Schönheit giebt, weil die griechischen
Weiber mehr reizend als schön sind, würde nichts de-
sto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz einem Mäd-
chen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, be-
kennen müssen, daß die Perserin schöner sey; und eben
dieses würde der Serer thun, ob er gleich das drey-
fache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizen-
der finden würde. -- Laß uns zu dem sittlichen Schö-
nen fortgehen. So groß auch hierinn die Verschieden-
heit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so wird
doch schwehrlich geläugnet werden können, daß die
Sitten derjenigen Nation, welche die geistreichste, die
munterste, die geselligste, die angenehmste ist, den Vor-
zug der Schönheit haben. Die ungezwungne und ein-
nehmende Höflichkeit des Atheniensers muß einem jeden
Fremden angenehmer seyn, als die abgemessene, ernst-

hafte

Agathon,
der Vorzug lange zweifelhaft ſeyn; allein endlich wuͤr-
de doch unter den Maͤnnern derjenige den Preiß erhal-
ten, bey deſſen Landesleuten die verſchiednen gymna-
ſtiſchen Uebungen am ſtaͤrkſten, und Verhaͤltnißweiſe in
dem hoͤchſten Grade der Vollkommenheit getrieben wuͤr-
den; und alle Maͤnner wuͤrden mit einer Stimme die-
jenige fuͤr die ſchoͤnſte unter den Schoͤnen erklaͤren, die
von einem Volke abgeſchikt worden, welches bey der
Erziehung der Toͤchter die moͤglichſte Entwiklung und
Cultur der natuͤrlichen Schoͤnheit zur Hauptſache machte.
Der Spartaner wuͤrde alſo vermuthlich fuͤr den ſchoͤn-
ſten Mann, und die Perſerin fuͤr das ſchoͤnſte Weib er-
klaͤrt werden. Der Grieche, welcher der Anmuth den
Vorzug vor der Schoͤnheit giebt, weil die griechiſchen
Weiber mehr reizend als ſchoͤn ſind, wuͤrde nichts de-
ſto weniger zu eben der Zeit, da ſein Herz einem Maͤd-
chen von Paphos oder Milet den Vorzug gaͤbe, be-
kennen muͤſſen, daß die Perſerin ſchoͤner ſey; und eben
dieſes wuͤrde der Serer thun, ob er gleich das drey-
fache Kinn und den Wanſt ſeiner Landsmaͤnnin reizen-
der finden wuͤrde. ‒‒ Laß uns zu dem ſittlichen Schoͤ-
nen fortgehen. So groß auch hierinn die Verſchieden-
heit der Begriffe unter verſchiednen Zonen iſt, ſo wird
doch ſchwehrlich gelaͤugnet werden koͤnnen, daß die
Sitten derjenigen Nation, welche die geiſtreichſte, die
munterſte, die geſelligſte, die angenehmſte iſt, den Vor-
zug der Schoͤnheit haben. Die ungezwungne und ein-
nehmende Hoͤflichkeit des Athenienſers muß einem jeden
Fremden angenehmer ſeyn, als die abgemeſſene, ernſt-

hafte
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[114/0136] Agathon, der Vorzug lange zweifelhaft ſeyn; allein endlich wuͤr- de doch unter den Maͤnnern derjenige den Preiß erhal- ten, bey deſſen Landesleuten die verſchiednen gymna- ſtiſchen Uebungen am ſtaͤrkſten, und Verhaͤltnißweiſe in dem hoͤchſten Grade der Vollkommenheit getrieben wuͤr- den; und alle Maͤnner wuͤrden mit einer Stimme die- jenige fuͤr die ſchoͤnſte unter den Schoͤnen erklaͤren, die von einem Volke abgeſchikt worden, welches bey der Erziehung der Toͤchter die moͤglichſte Entwiklung und Cultur der natuͤrlichen Schoͤnheit zur Hauptſache machte. Der Spartaner wuͤrde alſo vermuthlich fuͤr den ſchoͤn- ſten Mann, und die Perſerin fuͤr das ſchoͤnſte Weib er- klaͤrt werden. Der Grieche, welcher der Anmuth den Vorzug vor der Schoͤnheit giebt, weil die griechiſchen Weiber mehr reizend als ſchoͤn ſind, wuͤrde nichts de- ſto weniger zu eben der Zeit, da ſein Herz einem Maͤd- chen von Paphos oder Milet den Vorzug gaͤbe, be- kennen muͤſſen, daß die Perſerin ſchoͤner ſey; und eben dieſes wuͤrde der Serer thun, ob er gleich das drey- fache Kinn und den Wanſt ſeiner Landsmaͤnnin reizen- der finden wuͤrde. ‒‒ Laß uns zu dem ſittlichen Schoͤ- nen fortgehen. So groß auch hierinn die Verſchieden- heit der Begriffe unter verſchiednen Zonen iſt, ſo wird doch ſchwehrlich gelaͤugnet werden koͤnnen, daß die Sitten derjenigen Nation, welche die geiſtreichſte, die munterſte, die geſelligſte, die angenehmſte iſt, den Vor- zug der Schoͤnheit haben. Die ungezwungne und ein- nehmende Hoͤflichkeit des Athenienſers muß einem jeden Fremden angenehmer ſeyn, als die abgemeſſene, ernſt- hafte

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/136>, abgerufen am 19.04.2024.