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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, drittes Capitel.
Was für einen sechsten oder siebenten Sinn haben wir,
um die Würklichkeit der Gegenstände damit zu erkennen,
womit man die Geisterwelt bevölkert? Sind es unsre
innerlichen Sinnen? Was sind diese anders als das
Vermögen der Einbildungkraft die Würkungen der äus-
sern Sinnen nachzuäffen? Was sieht das innwendige
Auge eines Blindgebohrnen? Was hört das innere
Ohr eines gebohrnen Tauben? Oder was sind diese
Scenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft aus-
zuschweiffen fähig ist, anders als neue Zusammensezun-
gen, die sie gerade so macht, wie ein Mädchen aus den
Blumen, die in einem Parterre zerstreut stehen, einen
Kranz flicht; oder höhere Grade dessen was die Sin-
nen würklich empfunden haben, von welchen man je-
doch immer unfähig bleibt, sich einige klare Vorstellung
zu machen; Denn was empfinden wir bey dem ethe-
rischen Schimmer, oder den ambrosischen Gerüchen der
homerischen Götter? Wir sehen, wenn ich so sagen
kann, den Schatten eines Glanzes in unsrer Einbil-
dung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfin-
den; aber wir sehen keinen etherischen Glanz, und em-
pfinden keinen ambrosischen Geruch. Kurz, man verbie-
te den Schöpfern der überirrdischen Welten sich keiner
irrdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so
werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrüke zu
bedienen, plözlich wieder in den Schooß des Nichts
zurükfallen, woraus sie gezogen worden. Und brau-
chen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese
ganze Theorie verdächtig zu machen, als die Methode,

die
[Agath. I. Th.] G

Drittes Buch, drittes Capitel.
Was fuͤr einen ſechsten oder ſiebenten Sinn haben wir,
um die Wuͤrklichkeit der Gegenſtaͤnde damit zu erkennen,
womit man die Geiſterwelt bevoͤlkert? Sind es unſre
innerlichen Sinnen? Was ſind dieſe anders als das
Vermoͤgen der Einbildungkraft die Wuͤrkungen der aͤuſ-
ſern Sinnen nachzuaͤffen? Was ſieht das innwendige
Auge eines Blindgebohrnen? Was hoͤrt das innere
Ohr eines gebohrnen Tauben? Oder was ſind dieſe
Scenen, in welche die erhabenſte Einbildungskraft aus-
zuſchweiffen faͤhig iſt, anders als neue Zuſammenſezun-
gen, die ſie gerade ſo macht, wie ein Maͤdchen aus den
Blumen, die in einem Parterre zerſtreut ſtehen, einen
Kranz flicht; oder hoͤhere Grade deſſen was die Sin-
nen wuͤrklich empfunden haben, von welchen man je-
doch immer unfaͤhig bleibt, ſich einige klare Vorſtellung
zu machen; Denn was empfinden wir bey dem ethe-
riſchen Schimmer, oder den ambroſiſchen Geruͤchen der
homeriſchen Goͤtter? Wir ſehen, wenn ich ſo ſagen
kann, den Schatten eines Glanzes in unſrer Einbil-
dung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfin-
den; aber wir ſehen keinen etheriſchen Glanz, und em-
pfinden keinen ambroſiſchen Geruch. Kurz, man verbie-
te den Schoͤpfern der uͤberirrdiſchen Welten ſich keiner
irrdiſchen und ſinnlichen Materialien zu bedienen, ſo
werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdruͤke zu
bedienen, ploͤzlich wieder in den Schooß des Nichts
zuruͤkfallen, woraus ſie gezogen worden. Und brau-
chen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns dieſe
ganze Theorie verdaͤchtig zu machen, als die Methode,

die
[Agath. I. Th.] G
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[97/0119] Drittes Buch, drittes Capitel. Was fuͤr einen ſechsten oder ſiebenten Sinn haben wir, um die Wuͤrklichkeit der Gegenſtaͤnde damit zu erkennen, womit man die Geiſterwelt bevoͤlkert? Sind es unſre innerlichen Sinnen? Was ſind dieſe anders als das Vermoͤgen der Einbildungkraft die Wuͤrkungen der aͤuſ- ſern Sinnen nachzuaͤffen? Was ſieht das innwendige Auge eines Blindgebohrnen? Was hoͤrt das innere Ohr eines gebohrnen Tauben? Oder was ſind dieſe Scenen, in welche die erhabenſte Einbildungskraft aus- zuſchweiffen faͤhig iſt, anders als neue Zuſammenſezun- gen, die ſie gerade ſo macht, wie ein Maͤdchen aus den Blumen, die in einem Parterre zerſtreut ſtehen, einen Kranz flicht; oder hoͤhere Grade deſſen was die Sin- nen wuͤrklich empfunden haben, von welchen man je- doch immer unfaͤhig bleibt, ſich einige klare Vorſtellung zu machen; Denn was empfinden wir bey dem ethe- riſchen Schimmer, oder den ambroſiſchen Geruͤchen der homeriſchen Goͤtter? Wir ſehen, wenn ich ſo ſagen kann, den Schatten eines Glanzes in unſrer Einbil- dung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfin- den; aber wir ſehen keinen etheriſchen Glanz, und em- pfinden keinen ambroſiſchen Geruch. Kurz, man verbie- te den Schoͤpfern der uͤberirrdiſchen Welten ſich keiner irrdiſchen und ſinnlichen Materialien zu bedienen, ſo werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdruͤke zu bedienen, ploͤzlich wieder in den Schooß des Nichts zuruͤkfallen, woraus ſie gezogen worden. Und brau- chen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns dieſe ganze Theorie verdaͤchtig zu machen, als die Methode, die [Agath. I. Th.] G

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/119>, abgerufen am 25.04.2024.