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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
erhabnere Art von Glükseligkeit giebt, so können wir
wenigstens gewiß seyn, daß sie nicht für uns gehört,
da wir nicht einmal fähig sind, uns eine Vorstellung
davon zu machen. Es ist wahr, der enthusiastische
Theil unter den Verehrern der Götter schmeichelt sich mit
einer zukünftigen Glükseligkeit, zu welcher die Seele
nach der Zerstörung des Körpers erst gelangen soll.
Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und
Gespielin der Götter, sie war unsterblich wie sie, und
begleitete (wie Plato homerisirt) den geflügelten Wa-
gen Jupiters, um mit den übrigen Unsterblichen die
unvergängliche Schönheiten zu beschauen, womit die
unermeßlichen Räume über den Sphären erfüllt sind.
Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unsichtbaren
Welt entstand, verwikelte sie in den Fall der Besiegten;
sie ward vom Himmel gestürzt, und in den Kerker ei-
nes thierischen Leibes eingeschlossen, u[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt] durch den Ver-
lust ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zustand, der
eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre Schuld
auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie ge-
stillte Durst nach einer Glükseligkeit, die sie in keinem
irrdischen Gut findet, ist das einzige, das ihr zu ihrer
Qual von ihrem vormaligen Zustand übrig geblieben
ist; und es ist unmöglich, daß sie diese vollkommne Se-
ligkeit, wodurch sie allein befriediget werden kann,
wieder erlange, eh sie sich wieder in ihren ursprüngli-
chen Stand, in das reine Element der Geister empor ge-
schwungen hat. Sie ist also vor dem Tode keiner an-
dern Glükseligkeit fähig als derjenigen, deren sie durch

eine

Agathon.
erhabnere Art von Gluͤkſeligkeit giebt, ſo koͤnnen wir
wenigſtens gewiß ſeyn, daß ſie nicht fuͤr uns gehoͤrt,
da wir nicht einmal faͤhig ſind, uns eine Vorſtellung
davon zu machen. Es iſt wahr, der enthuſiaſtiſche
Theil unter den Verehrern der Goͤtter ſchmeichelt ſich mit
einer zukuͤnftigen Gluͤkſeligkeit, zu welcher die Seele
nach der Zerſtoͤrung des Koͤrpers erſt gelangen ſoll.
Die Seele, ſagen ſie, war ehmals eine Freundin und
Geſpielin der Goͤtter, ſie war unſterblich wie ſie, und
begleitete (wie Plato homeriſirt) den gefluͤgelten Wa-
gen Jupiters, um mit den uͤbrigen Unſterblichen die
unvergaͤngliche Schoͤnheiten zu beſchauen, womit die
unermeßlichen Raͤume uͤber den Sphaͤren erfuͤllt ſind.
Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unſichtbaren
Welt entſtand, verwikelte ſie in den Fall der Beſiegten;
ſie ward vom Himmel geſtuͤrzt, und in den Kerker ei-
nes thieriſchen Leibes eingeſchloſſen, u[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt] durch den Ver-
luſt ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zuſtand, der
eine Kette von Plagen und Schmerzen iſt, ihre Schuld
auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie ge-
ſtillte Durſt nach einer Gluͤkſeligkeit, die ſie in keinem
irrdiſchen Gut findet, iſt das einzige, das ihr zu ihrer
Qual von ihrem vormaligen Zuſtand uͤbrig geblieben
iſt; und es iſt unmoͤglich, daß ſie dieſe vollkommne Se-
ligkeit, wodurch ſie allein befriediget werden kann,
wieder erlange, eh ſie ſich wieder in ihren urſpruͤngli-
chen Stand, in das reine Element der Geiſter empor ge-
ſchwungen hat. Sie iſt alſo vor dem Tode keiner an-
dern Gluͤkſeligkeit faͤhig als derjenigen, deren ſie durch

eine
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[94/0116] Agathon. erhabnere Art von Gluͤkſeligkeit giebt, ſo koͤnnen wir wenigſtens gewiß ſeyn, daß ſie nicht fuͤr uns gehoͤrt, da wir nicht einmal faͤhig ſind, uns eine Vorſtellung davon zu machen. Es iſt wahr, der enthuſiaſtiſche Theil unter den Verehrern der Goͤtter ſchmeichelt ſich mit einer zukuͤnftigen Gluͤkſeligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerſtoͤrung des Koͤrpers erſt gelangen ſoll. Die Seele, ſagen ſie, war ehmals eine Freundin und Geſpielin der Goͤtter, ſie war unſterblich wie ſie, und begleitete (wie Plato homeriſirt) den gefluͤgelten Wa- gen Jupiters, um mit den uͤbrigen Unſterblichen die unvergaͤngliche Schoͤnheiten zu beſchauen, womit die unermeßlichen Raͤume uͤber den Sphaͤren erfuͤllt ſind. Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unſichtbaren Welt entſtand, verwikelte ſie in den Fall der Beſiegten; ſie ward vom Himmel geſtuͤrzt, und in den Kerker ei- nes thieriſchen Leibes eingeſchloſſen, u_ durch den Ver- luſt ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zuſtand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen iſt, ihre Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie ge- ſtillte Durſt nach einer Gluͤkſeligkeit, die ſie in keinem irrdiſchen Gut findet, iſt das einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zuſtand uͤbrig geblieben iſt; und es iſt unmoͤglich, daß ſie dieſe vollkommne Se- ligkeit, wodurch ſie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh ſie ſich wieder in ihren urſpruͤngli- chen Stand, in das reine Element der Geiſter empor ge- ſchwungen hat. Sie iſt alſo vor dem Tode keiner an- dern Gluͤkſeligkeit faͤhig als derjenigen, deren ſie durch eine

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/116>, abgerufen am 19.04.2024.