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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
sind die Allersinnlichsten. Ein gewisser Grad derselben
verbreitet eine wollüstige Wärme durch unser ganzes
Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das
Spiel der Fibern, und sezt unsre ganze Maschine in ei-
nen Zustand von Behaglichkeit, der sich der Seele um
so mehr mittheilet, als ihre eigne natürliche Verrich-
tungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert wer-
den. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen,
die Hofnung, das Mitleiden, jeder zärtliche Affect
bringt diese Würkung in einigem Grad hervor, und ist
desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust
nähert, die unsre Alten würdig gefunden haben, in
der Gestalt der personisicirten Schönheit, aus deren
Genuß sie entspringt, unter die Götter gesezt zu werden.
Derjenige, den sein Freund niemals in Entzükungen ge-
sezt hat, die den Entzükungen der Liebe ähnlich sind,
ist nicht berechtiget von den Vergnügen der Freundschaft
zu reden. Was ist das Mitleiden, welches uns zur
Gutthätigkeit treibt? Wer anders ist desselben fähig als
diese empfindlichen Seelen, deren Auge durch den An-
blik, deren Ohr durch den ächzenden Ton des Schmer-
zens und Elends gequälet wird, und die in dem Au-
genblik, da sie die Noth eines Unglüklichen erleichtern,
beynahe dasselbige Vergnügen fühlen, welches sie in
eben diesem Augenblik an seiner Stelle gefühlt hätten?
Wenn das Mittleiden nicht ein wollüstiges Gefühl ist,
warum rührt uns nichts so sehr als die leidende Schön-
heit? Warum lokt die klagende Phädra in der Nach-
ahmung zärtliche Thränen aus unsern Augen, da die

win-

Agathon,
ſind die Allerſinnlichſten. Ein gewiſſer Grad derſelben
verbreitet eine wolluͤſtige Waͤrme durch unſer ganzes
Weſen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das
Spiel der Fibern, und ſezt unſre ganze Maſchine in ei-
nen Zuſtand von Behaglichkeit, der ſich der Seele um
ſo mehr mittheilet, als ihre eigne natuͤrliche Verrich-
tungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert wer-
den. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen,
die Hofnung, das Mitleiden, jeder zaͤrtliche Affect
bringt dieſe Wuͤrkung in einigem Grad hervor, und iſt
deſto angenehmer, je mehr er ſich derjenigen Wolluſt
naͤhert, die unſre Alten wuͤrdig gefunden haben, in
der Geſtalt der perſoniſicirten Schoͤnheit, aus deren
Genuß ſie entſpringt, unter die Goͤtter geſezt zu werden.
Derjenige, den ſein Freund niemals in Entzuͤkungen ge-
ſezt hat, die den Entzuͤkungen der Liebe aͤhnlich ſind,
iſt nicht berechtiget von den Vergnuͤgen der Freundſchaft
zu reden. Was iſt das Mitleiden, welches uns zur
Gutthaͤtigkeit treibt? Wer anders iſt deſſelben faͤhig als
dieſe empfindlichen Seelen, deren Auge durch den An-
blik, deren Ohr durch den aͤchzenden Ton des Schmer-
zens und Elends gequaͤlet wird, und die in dem Au-
genblik, da ſie die Noth eines Ungluͤklichen erleichtern,
beynahe daſſelbige Vergnuͤgen fuͤhlen, welches ſie in
eben dieſem Augenblik an ſeiner Stelle gefuͤhlt haͤtten?
Wenn das Mittleiden nicht ein wolluͤſtiges Gefuͤhl iſt,
warum ruͤhrt uns nichts ſo ſehr als die leidende Schoͤn-
heit? Warum lokt die klagende Phaͤdra in der Nach-
ahmung zaͤrtliche Thraͤnen aus unſern Augen, da die

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[88/0110] Agathon, ſind die Allerſinnlichſten. Ein gewiſſer Grad derſelben verbreitet eine wolluͤſtige Waͤrme durch unſer ganzes Weſen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern, und ſezt unſre ganze Maſchine in ei- nen Zuſtand von Behaglichkeit, der ſich der Seele um ſo mehr mittheilet, als ihre eigne natuͤrliche Verrich- tungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert wer- den. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hofnung, das Mitleiden, jeder zaͤrtliche Affect bringt dieſe Wuͤrkung in einigem Grad hervor, und iſt deſto angenehmer, je mehr er ſich derjenigen Wolluſt naͤhert, die unſre Alten wuͤrdig gefunden haben, in der Geſtalt der perſoniſicirten Schoͤnheit, aus deren Genuß ſie entſpringt, unter die Goͤtter geſezt zu werden. Derjenige, den ſein Freund niemals in Entzuͤkungen ge- ſezt hat, die den Entzuͤkungen der Liebe aͤhnlich ſind, iſt nicht berechtiget von den Vergnuͤgen der Freundſchaft zu reden. Was iſt das Mitleiden, welches uns zur Gutthaͤtigkeit treibt? Wer anders iſt deſſelben faͤhig als dieſe empfindlichen Seelen, deren Auge durch den An- blik, deren Ohr durch den aͤchzenden Ton des Schmer- zens und Elends gequaͤlet wird, und die in dem Au- genblik, da ſie die Noth eines Ungluͤklichen erleichtern, beynahe daſſelbige Vergnuͤgen fuͤhlen, welches ſie in eben dieſem Augenblik an ſeiner Stelle gefuͤhlt haͤtten? Wenn das Mittleiden nicht ein wolluͤſtiges Gefuͤhl iſt, warum ruͤhrt uns nichts ſo ſehr als die leidende Schoͤn- heit? Warum lokt die klagende Phaͤdra in der Nach- ahmung zaͤrtliche Thraͤnen aus unſern Augen, da die win-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/110>, abgerufen am 23.11.2024.