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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
ten Classe, die aus beyden zusammen gesezt ist, gehören.
Die Vergnügen der Einbildungskraft sind entweder Er-
innerungen an ehmals genossene sinnliche Vergnügen;
oder Mittel uns den Genuß derselben reizender zu ma-
chen; oder angenehme Dichtungen und Träume, die
entweder in einer neuen willkührlichen Zusammensezung
der angenehmen Jdeen, die uns die Sinne gegeben,
oder in einer dunkel eingebildeten Erhöhung der Gra-
de jener Vergnügen, die wir erfahren haben, beste-
hen. Es sind also, wenn man genau reden will, alle
Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sey
nun unmittelbar oder vermittelst der Einbildungskraft,
von keinen andern als sinnlichen Vorstellungen entstehen
können.

Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes,
von Vergnügen des Herzens, von Vergnügen der Tu-
gend. Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen oder
für die Einbildungskraft, oder sie sind nichts. Warum
ist Homer unendlich mal angenehmer zu lesen als He-
raclitus? Weil die Gedichte des ersten eine Reyhe von
Gemählden darstellen, die entweder durch die eigentüm-
liche Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftig-
keit der Farben, oder einen Contrast, der das Ver-
gnügen durch eine kleine Mischung mit widrigen Em-
pfindungen erhöhet, oder die Erregung angenehmer
Bewegungen, unsre Phantasie bezaubern. -- Da die
troknen Schriften des Philosophen nichts darstellen, als
eine Reyhe von Wörtern, womit man abgezogne Be-

griffe

Agathon.
ten Claſſe, die aus beyden zuſammen geſezt iſt, gehoͤren.
Die Vergnuͤgen der Einbildungskraft ſind entweder Er-
innerungen an ehmals genoſſene ſinnliche Vergnuͤgen;
oder Mittel uns den Genuß derſelben reizender zu ma-
chen; oder angenehme Dichtungen und Traͤume, die
entweder in einer neuen willkuͤhrlichen Zuſammenſezung
der angenehmen Jdeen, die uns die Sinne gegeben,
oder in einer dunkel eingebildeten Erhoͤhung der Gra-
de jener Vergnuͤgen, die wir erfahren haben, beſte-
hen. Es ſind alſo, wenn man genau reden will, alle
Vergnuͤgungen im Grunde ſinnlich, indem ſie, es ſey
nun unmittelbar oder vermittelſt der Einbildungskraft,
von keinen andern als ſinnlichen Vorſtellungen entſtehen
koͤnnen.

Die Philoſophen reden von Vergnuͤgen des Geiſtes,
von Vergnuͤgen des Herzens, von Vergnuͤgen der Tu-
gend. Alle dieſe Vergnuͤgen ſind es fuͤr die Sinnen oder
fuͤr die Einbildungskraft, oder ſie ſind nichts. Warum
iſt Homer unendlich mal angenehmer zu leſen als He-
raclitus? Weil die Gedichte des erſten eine Reyhe von
Gemaͤhlden darſtellen, die entweder durch die eigentuͤm-
liche Reizungen des Gegenſtandes, oder die Lebhaftig-
keit der Farben, oder einen Contraſt, der das Ver-
gnuͤgen durch eine kleine Miſchung mit widrigen Em-
pfindungen erhoͤhet, oder die Erregung angenehmer
Bewegungen, unſre Phantaſie bezaubern. ‒‒ Da die
troknen Schriften des Philoſophen nichts darſtellen, als
eine Reyhe von Woͤrtern, womit man abgezogne Be-

griffe
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[86/0108] Agathon. ten Claſſe, die aus beyden zuſammen geſezt iſt, gehoͤren. Die Vergnuͤgen der Einbildungskraft ſind entweder Er- innerungen an ehmals genoſſene ſinnliche Vergnuͤgen; oder Mittel uns den Genuß derſelben reizender zu ma- chen; oder angenehme Dichtungen und Traͤume, die entweder in einer neuen willkuͤhrlichen Zuſammenſezung der angenehmen Jdeen, die uns die Sinne gegeben, oder in einer dunkel eingebildeten Erhoͤhung der Gra- de jener Vergnuͤgen, die wir erfahren haben, beſte- hen. Es ſind alſo, wenn man genau reden will, alle Vergnuͤgungen im Grunde ſinnlich, indem ſie, es ſey nun unmittelbar oder vermittelſt der Einbildungskraft, von keinen andern als ſinnlichen Vorſtellungen entſtehen koͤnnen. Die Philoſophen reden von Vergnuͤgen des Geiſtes, von Vergnuͤgen des Herzens, von Vergnuͤgen der Tu- gend. Alle dieſe Vergnuͤgen ſind es fuͤr die Sinnen oder fuͤr die Einbildungskraft, oder ſie ſind nichts. Warum iſt Homer unendlich mal angenehmer zu leſen als He- raclitus? Weil die Gedichte des erſten eine Reyhe von Gemaͤhlden darſtellen, die entweder durch die eigentuͤm- liche Reizungen des Gegenſtandes, oder die Lebhaftig- keit der Farben, oder einen Contraſt, der das Ver- gnuͤgen durch eine kleine Miſchung mit widrigen Em- pfindungen erhoͤhet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen, unſre Phantaſie bezaubern. ‒‒ Da die troknen Schriften des Philoſophen nichts darſtellen, als eine Reyhe von Woͤrtern, womit man abgezogne Be- griffe

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/108>, abgerufen am 18.04.2024.