die frömmsten weisesten Leute, deren immer nur wenige sein können. Was ich hier gesagt habe, heißt nur mit andern Worten: Schade, und Jammer! daß der Geist unserm Aus- üben auf Erden immer vor ist; welches sich ewig von neuem zu unserer Qual und Schmerz wiedererzeugt. Ich kann gar nicht raisonniren, wie Sie sehen; weil ich immer bis zum Erd- ball, der Menschen Geist, und dem lieben Gott komme; und dann an dem Berg stehe: und ein Raisonnement soll schreiten. Aber ich wollte meinem Geschichtsprofessor mich doch auch Ein- mal produziren: und ihm zeigen, daß ich mir Gedanken bei Lesung derselben mache; welches mir mit Gedächtniß noch schwerer gelänge. -- Nun warte ich auf einen Brief von Ih- nen! bis mir etwas einfällt. --
Dienstag, den 24. März Vormittag 1 Uhr.
Wer weiß, ob man mich so lange allein lassen wird, bis ich Ihnen ein paar Zeilen werde geschrieben haben! Sie se- hen, Undankbarster, wann dieser Brief angefangen ist. Sie sind stumm, und schicken mir auch kein Buch; und nun muß ich mit meinem Lesen warten. Dazwischen lese ich, wenn sie mich nicht stören, ein altes Buch, den Streit von Mendels- sohn und Jacobi betreffend, den ein gradgesinnter, vernunft- rechter Mensch darlegt; Mendelssohn hat Unrecht. Dieser letztere aber hat, welches dabeigebunden ist, die Schrift eines englischen Juden [Manasseh Ben Israel] übersetzt, und eine Vorrede dazu geschrieben, die meine Bewunderung ausmacht, so elegant und besonnen ist sie geschrieben; auch das Buch könnte, nein, sollte, den jetzigen Übersetzern ein Muster abge-
die frömmſten weiſeſten Leute, deren immer nur wenige ſein können. Was ich hier geſagt habe, heißt nur mit andern Worten: Schade, und Jammer! daß der Geiſt unſerm Aus- üben auf Erden immer vor iſt; welches ſich ewig von neuem zu unſerer Qual und Schmerz wiedererzeugt. Ich kann gar nicht raiſonniren, wie Sie ſehen; weil ich immer bis zum Erd- ball, der Menſchen Geiſt, und dem lieben Gott komme; und dann an dem Berg ſtehe: und ein Raiſonnement ſoll ſchreiten. Aber ich wollte meinem Geſchichtsprofeſſor mich doch auch Ein- mal produziren: und ihm zeigen, daß ich mir Gedanken bei Leſung derſelben mache; welches mir mit Gedächtniß noch ſchwerer gelänge. — Nun warte ich auf einen Brief von Ih- nen! bis mir etwas einfällt. —
Dienstag, den 24. März Vormittag 1 Uhr.
Wer weiß, ob man mich ſo lange allein laſſen wird, bis ich Ihnen ein paar Zeilen werde geſchrieben haben! Sie ſe- hen, Undankbarſter, wann dieſer Brief angefangen iſt. Sie ſind ſtumm, und ſchicken mir auch kein Buch; und nun muß ich mit meinem Leſen warten. Dazwiſchen leſe ich, wenn ſie mich nicht ſtören, ein altes Buch, den Streit von Mendels- ſohn und Jacobi betreffend, den ein gradgeſinnter, vernunft- rechter Menſch darlegt; Mendelsſohn hat Unrecht. Dieſer letztere aber hat, welches dabeigebunden iſt, die Schrift eines engliſchen Juden [Manaſſeh Ben Israel] überſetzt, und eine Vorrede dazu geſchrieben, die meine Bewunderung ausmacht, ſo elegant und beſonnen iſt ſie geſchrieben; auch das Buch könnte, nein, ſollte, den jetzigen Überſetzern ein Muſter abge-
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die frömmſten weiſeſten Leute, deren immer nur wenige ſein
können. Was ich hier geſagt habe, heißt nur mit andern
Worten: Schade, und Jammer! daß der Geiſt unſerm Aus-
üben auf Erden immer vor iſt; welches ſich ewig von neuem
zu unſerer Qual und Schmerz wiedererzeugt. Ich kann gar
nicht raiſonniren, wie Sie ſehen; weil ich immer bis zum Erd-
ball, der Menſchen Geiſt, und dem lieben Gott komme; und
dann an dem Berg ſtehe: und ein Raiſonnement ſoll ſchreiten.
Aber ich wollte meinem Geſchichtsprofeſſor mich doch auch Ein-
mal produziren: und ihm zeigen, daß ich mir Gedanken bei
Leſung derſelben mache; welches mir mit Gedächtniß noch
ſchwerer gelänge. — Nun warte ich auf einen Brief von Ih-
nen! bis mir etwas einfällt. —
Dienstag, den 24. März Vormittag 1 Uhr.
Wer weiß, ob man mich ſo lange allein laſſen wird, bis
ich Ihnen ein paar Zeilen werde geſchrieben haben! Sie ſe-
hen, Undankbarſter, wann dieſer Brief angefangen iſt. Sie
ſind ſtumm, und ſchicken mir auch kein Buch; und nun muß
ich mit meinem Leſen warten. Dazwiſchen leſe ich, wenn ſie
mich nicht ſtören, ein altes Buch, den Streit von Mendels-
ſohn und Jacobi betreffend, den ein gradgeſinnter, vernunft-
rechter Menſch darlegt; Mendelsſohn hat Unrecht. Dieſer
letztere aber hat, welches dabeigebunden iſt, die Schrift eines
engliſchen Juden [Manaſſeh Ben Israel] überſetzt, und eine
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ſo elegant und beſonnen iſt ſie geſchrieben; auch das Buch
könnte, nein, ſollte, den jetzigen Überſetzern ein Muſter abge-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/35>, abgerufen am 23.11.2024.
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