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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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am Morgen seines Auferstehungstags.
sie izt mit keinem Gedanken; mit seinem Tode hatte
gewis auch für sie fast alle, bisher noch immer auf ihn
gesezte, Hofnung, er sei der längst erwartete Messias,
aufgehört, denn Messias konnte, auch nach ihren Reli-
gionsbegriffen, nicht sterben, am allerwenigsten um
dieses Bekenntnisses willen. Fanden sie sich nun zwar
izt in ihren Erwartungen von Jesu unangenehm ge-
täuscht,
und war, selbst wohl nach ihrer izzigen Ein-
sicht, die, von dem hohen Rath und, auf Begehren dessel-
ben und des ganzen Volks, auch von dem römischen
Statthalter, geschehene Verurtheilung Jesu zum Kreu-
zestode nicht ganz ungerecht; so überwog doch der
Schmerz, ihren, sonst so vortreflichen, Freund auf eine
solche Art verlohren zu haben wie das, izt gewis rege,
Andenken an so viele seiner herrlichen Lehren und außer-
ordentlichen, durchaus göttlichen, Thaten, und seinen, in
stiller Größe sich gleich gebliebnen, Lebenswandel bei wei-
tem iene Vorstellungen, die nur dunkel in ihrer Sele
aufkommen konnten, und die sie auch sehr gern von sich
entfernten. Unmuthig wurden sie also gewis izt nicht
über Jesum, nicht in einem Augenblik ihres stillen Nach-
denkens, so traurig auch äußerlich die Lage war, worin
sie nun durch ihn gebracht waren, sondern Liebe, Dank-
barkeit und tiefe Hochachtung, die, ohne daß sie das izd
wollten, noch immer bei ihnen nah an göttliche Vereh-
rung gränzte, empfanden sie gewis noch recht stark für
ihn, und so war und blieb, bei der, ihnen stets gegenwär-
tigen, Vorstellung der Kreuzigung und des Martertodes
Jesu, Mitleiden ihre herrschende Empfindung.

Von diesem Gefühl überwältigt, waren sie nun auch
gleich eins, vielleicht mit der Rükerinnerung an Joh.
12, 7. den Leichnam Jesu, um ihm noch im Tode eine
Ehre zu erzeigen, einzubalsamiren. Das konnten sie izt
um so eher thun, da er ein Eigenthum seines Freun-
des,
und folglich auch ihres Vertrauten war, das
wollten sie aber doch in der Nacht thun, um unerkannt
zu bleiben, und vielleicht auch, um nicht das Gerücht zu
veranlassen, von dessen muthmaßlicher Entstehung sie
schon izt gehört haben konnten. Die erste Nacht liessen

sie
J 5

am Morgen ſeines Auferſtehungstags.
ſie izt mit keinem Gedanken; mit ſeinem Tode hatte
gewis auch für ſie faſt alle, bisher noch immer auf ihn
geſezte, Hofnung, er ſei der längſt erwartete Meſſias,
aufgehört, denn Meſſias konnte, auch nach ihren Reli-
gionsbegriffen, nicht ſterben, am allerwenigſten um
dieſes Bekenntniſſes willen. Fanden ſie ſich nun zwar
izt in ihren Erwartungen von Jeſu unangenehm ge-
täuſcht,
und war, ſelbſt wohl nach ihrer izzigen Ein-
ſicht, die, von dem hohen Rath und, auf Begehren deſſel-
ben und des ganzen Volks, auch von dem römiſchen
Statthalter, geſchehene Verurtheilung Jeſu zum Kreu-
zestode nicht ganz ungerecht; ſo überwog doch der
Schmerz, ihren, ſonſt ſo vortreflichen, Freund auf eine
ſolche Art verlohren zu haben wie das, izt gewis rege,
Andenken an ſo viele ſeiner herrlichen Lehren und außer-
ordentlichen, durchaus göttlichen, Thaten, und ſeinen, in
ſtiller Größe ſich gleich gebliebnen, Lebenswandel bei wei-
tem iene Vorſtellungen, die nur dunkel in ihrer Sele
aufkommen konnten, und die ſie auch ſehr gern von ſich
entfernten. Unmuthig wurden ſie alſo gewis izt nicht
über Jeſum, nicht in einem Augenblik ihres ſtillen Nach-
denkens, ſo traurig auch äußerlich die Lage war, worin
ſie nun durch ihn gebracht waren, ſondern Liebe, Dank-
barkeit und tiefe Hochachtung, die, ohne daß ſie das izd
wollten, noch immer bei ihnen nah an göttliche Vereh-
rung gränzte, empfanden ſie gewis noch recht ſtark für
ihn, und ſo war und blieb, bei der, ihnen ſtets gegenwär-
tigen, Vorſtellung der Kreuzigung und des Martertodes
Jeſu, Mitleiden ihre herrſchende Empfindung.

Von dieſem Gefühl überwältigt, waren ſie nun auch
gleich eins, vielleicht mit der Rükerinnerung an Joh.
12, 7. den Leichnam Jeſu, um ihm noch im Tode eine
Ehre zu erzeigen, einzubalſamiren. Das konnten ſie izt
um ſo eher thun, da er ein Eigenthum ſeines Freun-
des,
und folglich auch ihres Vertrauten war, das
wollten ſie aber doch in der Nacht thun, um unerkannt
zu bleiben, und vielleicht auch, um nicht das Gerücht zu
veranlaſſen, von deſſen muthmaßlicher Entſtehung ſie
ſchon izt gehört haben konnten. Die erſte Nacht lieſſen

ſie
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[137/0151] am Morgen ſeines Auferſtehungstags. ſie izt mit keinem Gedanken; mit ſeinem Tode hatte gewis auch für ſie faſt alle, bisher noch immer auf ihn geſezte, Hofnung, er ſei der längſt erwartete Meſſias, aufgehört, denn Meſſias konnte, auch nach ihren Reli- gionsbegriffen, nicht ſterben, am allerwenigſten um dieſes Bekenntniſſes willen. Fanden ſie ſich nun zwar izt in ihren Erwartungen von Jeſu unangenehm ge- täuſcht, und war, ſelbſt wohl nach ihrer izzigen Ein- ſicht, die, von dem hohen Rath und, auf Begehren deſſel- ben und des ganzen Volks, auch von dem römiſchen Statthalter, geſchehene Verurtheilung Jeſu zum Kreu- zestode nicht ganz ungerecht; ſo überwog doch der Schmerz, ihren, ſonſt ſo vortreflichen, Freund auf eine ſolche Art verlohren zu haben wie das, izt gewis rege, Andenken an ſo viele ſeiner herrlichen Lehren und außer- ordentlichen, durchaus göttlichen, Thaten, und ſeinen, in ſtiller Größe ſich gleich gebliebnen, Lebenswandel bei wei- tem iene Vorſtellungen, die nur dunkel in ihrer Sele aufkommen konnten, und die ſie auch ſehr gern von ſich entfernten. Unmuthig wurden ſie alſo gewis izt nicht über Jeſum, nicht in einem Augenblik ihres ſtillen Nach- denkens, ſo traurig auch äußerlich die Lage war, worin ſie nun durch ihn gebracht waren, ſondern Liebe, Dank- barkeit und tiefe Hochachtung, die, ohne daß ſie das izd wollten, noch immer bei ihnen nah an göttliche Vereh- rung gränzte, empfanden ſie gewis noch recht ſtark für ihn, und ſo war und blieb, bei der, ihnen ſtets gegenwär- tigen, Vorſtellung der Kreuzigung und des Martertodes Jeſu, Mitleiden ihre herrſchende Empfindung. Von dieſem Gefühl überwältigt, waren ſie nun auch gleich eins, vielleicht mit der Rükerinnerung an Joh. 12, 7. den Leichnam Jeſu, um ihm noch im Tode eine Ehre zu erzeigen, einzubalſamiren. Das konnten ſie izt um ſo eher thun, da er ein Eigenthum ſeines Freun- des, und folglich auch ihres Vertrauten war, das wollten ſie aber doch in der Nacht thun, um unerkannt zu bleiben, und vielleicht auch, um nicht das Gerücht zu veranlaſſen, von deſſen muthmaßlicher Entſtehung ſie ſchon izt gehört haben konnten. Die erſte Nacht lieſſen ſie J 5

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/151>, abgerufen am 29.11.2024.