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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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verstekte Geheimnisse der Schönheit in Farben
führen.

Er wird nun beobachten lernen, wie die beyden
Hauptmaßen mit einander um den Vorzug der Man-
nigfaltigkeit, und der, jeder eigenen Schönheit, strei-
ten. Das Helle wird ihn durch Anmuthigkeit und
die Lieblichkeit schöner und in der besten Harmonie
neben einander stehender Farben einnehmen; das
Dunkle aber wird ihn durch eine strengere Schönheit
rühren; durch die Mannigfaltigkeit der Farben,
durch ihr Feuer, durch die wunderbare Vermischung
glänzender und dunkeler Theile, in Bewundrung
setzen. Unter tausend unnennbaren, durch man-
cherley Wiederscheine noch mehr vervielfältigten Far-
ben, wird er hier und da von blitzenden Stellen ge-
gen den dunkeln Grund auf das lebhafteste gerührt.
Er empfindet, daß dadurch das Ganze, Leben und
Würksamkeit bekommt.

Mit solchen Begriffen von der Schönheit in Far-
ben, geht er von der Betrachtung der Natur, auf
die Betrachtung der Kunst. Er sieht, wie die be-
sten Meister der Venetianischen und Niederländischen
Schulen, die Schönheit der Natur durch eine glük-
liche Wahl und Mischung der Farben auf Holz und
Leinwand getragen haben. Jn dem einen bewun-
dert er die höchste Wahrheit; er glaubt die Natur
selbst vor sich zu sehen; in andern findet er sogar
die Schönheit der Farben bis zum Jdeal erhoben.
Denn fängt er an zu erforschen, durch welche Mit-
tel es diesen Künstlern gelungen, eine solche Zau-
berey hervorzubringen. Da lernt er erkennen, daß
das vollkommene Colorit eben sowol ein grosses Genie
erfodere, als die vollkommene Zeichnung der For-
men; daß das Mahlen nicht sowol ein Werk einer
geübten Hand, als eines glüklichen Genies, einer
auf scharfsinnige Beobachtungen gegründeten tiefen
Einsicht, und eines immer das Beste wählenden
Geschmaks sey.

Wenn der Mahler seinen Geschmak für die Wahr-
heit und Schönheit des Colorits durch die Beobach-
tung der Natur und der Kunst gebildet hat, so bedienet
er sich auch dieser beyden Mittel, die schweere Kunst
der Farbengebung zu studiren. Mit dem durch
Genie und Verstand geschärften Aug eines Leon-
hardo da Vinci,
beobachtet er jede besondere Wür-
kung der Farben in der Natur, und bringt das un-
gewisse und zweifelhafte seiner Bemerkungen durch
Versuche zur Gewißheit.

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Col

Zuerst erforschet er, wie blos durch Licht und Schat-
ten dasjenige bewürkt wird, was man die Haltung
nennt (*). Denn erforscht er, wie durch hellere(*) S.
Haltung.

und dunklere Farben eine Würkung kann hervorge-
bracht werden, die mit der übereinkommt, die durch
Licht und Schatten entsteht (*). Die Beobachtun-(*) S.
Helldunkel

gen hierüber sammelt er in der Natur, und ver-
mehrt sie durch Versuche. Denn sammelt er die
Fälle, wo ein heller Körper gegen einen dunkeln
Grund gestellt, oder ein dunkler gegen einen hellen,
die wunderbare Würkung thut, Gegenstände wie
durch eine Zauberkraft zu entfernen (*). Denn(*) S.
Druker.
Zurukwei-
chen.

beobachtet er überhaupt die Modificationen, welche
die Farben durch Entfernung vom Auge bekommen,
wie jeder Körper nach und nach, so wie er sich vom
Aug entfernt, immer etwas mehr von der Färbung
der Luft annimmt, und wie zuletzt Körper von
ganz verschiedenen Farben in grossen Entfernungen,
mit der allgemeinen Farbe der duftenden Lust beklei-
det werden (*)

(*) S.
Luftperspe-
ctiv.

Ein langes und ernstliches Studium erfodert
hiernächst die Erforschung der Ursachen, wodurch
die Harmonie der Farben bewürkt wird. Diese wird
er hauptsächlich dadurch erforschen lernen, daß er
beobachtet, wie ein Gegenstand durch seine Farbe
und durch sein Licht aus einer Maße andrer hervor-
tritt und sich gleichsam ablöset, und der Vereini-
gung mit den andern widersteht. Denn dieses wird
ihn auf die Spur bringen, wie durch eine entgegen-
gesetzte Würkung, verschiedene Körper in eine Maße
zusammenfliessen. Dadurch wird er lernen, wie
hier eine Erhöhung, dort Mäßigung, sowol des
Lichts, als der besondern Farben nöthig sey.

Am schweersten aber wird er zur genauen Kennt-
niß der allmähligen Mäßigung der Farbe jedes Kör-
pers, von der Stelle an, die das stärkste Licht hat,
bis dahin, wo der stärkste Schatten ist, kommen.
Diese Kenntniß der Mittelfarben (*) ist vielleicht(*) S.
Mittelfat-
ben.

der schweerste Theil der Kunst des Colorits. Ehe
man nicht mit dem schärfsten Aug unzählige Beob-
achtungen, sowol aus der Natur als aus der Ar-
beit der größten Meister gesammelt hat, kann man
sich in diesem Stük nicht viel versprechen. Denn
kommt endlich noch die Beobachtung der Wieder-
scheine
(*), wodurch die höchste Wahrheit mit der(*) S.
Wieder-
schein.

größten Mannigfaltigkeit verbunden, entstehet.
Zwar ist dieser Theil in der Theorie mehr weitläuf-
tig als schweer. Man kann sich durch leichte Ver-

suche,
D d 2

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Col
verſtekte Geheimniſſe der Schoͤnheit in Farben
fuͤhren.

Er wird nun beobachten lernen, wie die beyden
Hauptmaßen mit einander um den Vorzug der Man-
nigfaltigkeit, und der, jeder eigenen Schoͤnheit, ſtrei-
ten. Das Helle wird ihn durch Anmuthigkeit und
die Lieblichkeit ſchoͤner und in der beſten Harmonie
neben einander ſtehender Farben einnehmen; das
Dunkle aber wird ihn durch eine ſtrengere Schoͤnheit
ruͤhren; durch die Mannigfaltigkeit der Farben,
durch ihr Feuer, durch die wunderbare Vermiſchung
glaͤnzender und dunkeler Theile, in Bewundrung
ſetzen. Unter tauſend unnennbaren, durch man-
cherley Wiederſcheine noch mehr vervielfaͤltigten Far-
ben, wird er hier und da von blitzenden Stellen ge-
gen den dunkeln Grund auf das lebhafteſte geruͤhrt.
Er empfindet, daß dadurch das Ganze, Leben und
Wuͤrkſamkeit bekommt.

Mit ſolchen Begriffen von der Schoͤnheit in Far-
ben, geht er von der Betrachtung der Natur, auf
die Betrachtung der Kunſt. Er ſieht, wie die be-
ſten Meiſter der Venetianiſchen und Niederlaͤndiſchen
Schulen, die Schoͤnheit der Natur durch eine gluͤk-
liche Wahl und Miſchung der Farben auf Holz und
Leinwand getragen haben. Jn dem einen bewun-
dert er die hoͤchſte Wahrheit; er glaubt die Natur
ſelbſt vor ſich zu ſehen; in andern findet er ſogar
die Schoͤnheit der Farben bis zum Jdeal erhoben.
Denn faͤngt er an zu erforſchen, durch welche Mit-
tel es dieſen Kuͤnſtlern gelungen, eine ſolche Zau-
berey hervorzubringen. Da lernt er erkennen, daß
das vollkommene Colorit eben ſowol ein groſſes Genie
erfodere, als die vollkommene Zeichnung der For-
men; daß das Mahlen nicht ſowol ein Werk einer
geuͤbten Hand, als eines gluͤklichen Genies, einer
auf ſcharfſinnige Beobachtungen gegruͤndeten tiefen
Einſicht, und eines immer das Beſte waͤhlenden
Geſchmaks ſey.

Wenn der Mahler ſeinen Geſchmak fuͤr die Wahr-
heit und Schoͤnheit des Colorits durch die Beobach-
tung der Natur und der Kunſt gebildet hat, ſo bedienet
er ſich auch dieſer beyden Mittel, die ſchweere Kunſt
der Farbengebung zu ſtudiren. Mit dem durch
Genie und Verſtand geſchaͤrften Aug eines Leon-
hardo da Vinci,
beobachtet er jede beſondere Wuͤr-
kung der Farben in der Natur, und bringt das un-
gewiſſe und zweifelhafte ſeiner Bemerkungen durch
Verſuche zur Gewißheit.

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Col

Zuerſt erforſchet er, wie blos durch Licht und Schat-
ten dasjenige bewuͤrkt wird, was man die Haltung
nennt (*). Denn erforſcht er, wie durch hellere(*) S.
Haltung.

und dunklere Farben eine Wuͤrkung kann hervorge-
bracht werden, die mit der uͤbereinkommt, die durch
Licht und Schatten entſteht (*). Die Beobachtun-(*) S.
Helldunkel

gen hieruͤber ſammelt er in der Natur, und ver-
mehrt ſie durch Verſuche. Denn ſammelt er die
Faͤlle, wo ein heller Koͤrper gegen einen dunkeln
Grund geſtellt, oder ein dunkler gegen einen hellen,
die wunderbare Wuͤrkung thut, Gegenſtaͤnde wie
durch eine Zauberkraft zu entfernen (*). Denn(*) S.
Druker.
Zurukwei-
chen.

beobachtet er uͤberhaupt die Modificationen, welche
die Farben durch Entfernung vom Auge bekommen,
wie jeder Koͤrper nach und nach, ſo wie er ſich vom
Aug entfernt, immer etwas mehr von der Faͤrbung
der Luft annimmt, und wie zuletzt Koͤrper von
ganz verſchiedenen Farben in groſſen Entfernungen,
mit der allgemeinen Farbe der duftenden Luſt beklei-
det werden (*)

(*) S.
Luftperſpe-
ctiv.

Ein langes und ernſtliches Studium erfodert
hiernaͤchſt die Erforſchung der Urſachen, wodurch
die Harmonie der Farben bewuͤrkt wird. Dieſe wird
er hauptſaͤchlich dadurch erforſchen lernen, daß er
beobachtet, wie ein Gegenſtand durch ſeine Farbe
und durch ſein Licht aus einer Maße andrer hervor-
tritt und ſich gleichſam abloͤſet, und der Vereini-
gung mit den andern widerſteht. Denn dieſes wird
ihn auf die Spur bringen, wie durch eine entgegen-
geſetzte Wuͤrkung, verſchiedene Koͤrper in eine Maße
zuſammenflieſſen. Dadurch wird er lernen, wie
hier eine Erhoͤhung, dort Maͤßigung, ſowol des
Lichts, als der beſondern Farben noͤthig ſey.

Am ſchweerſten aber wird er zur genauen Kennt-
niß der allmaͤhligen Maͤßigung der Farbe jedes Koͤr-
pers, von der Stelle an, die das ſtaͤrkſte Licht hat,
bis dahin, wo der ſtaͤrkſte Schatten iſt, kommen.
Dieſe Kenntniß der Mittelfarben (*) iſt vielleicht(*) S.
Mittelfat-
ben.

der ſchweerſte Theil der Kunſt des Colorits. Ehe
man nicht mit dem ſchaͤrfſten Aug unzaͤhlige Beob-
achtungen, ſowol aus der Natur als aus der Ar-
beit der groͤßten Meiſter geſammelt hat, kann man
ſich in dieſem Stuͤk nicht viel verſprechen. Denn
kommt endlich noch die Beobachtung der Wieder-
ſcheine
(*), wodurch die hoͤchſte Wahrheit mit der(*) S.
Wieder-
ſchein.

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Zwar iſt dieſer Theil in der Theorie mehr weitlaͤuf-
tig als ſchweer. Man kann ſich durch leichte Ver-

ſuche,
D d 2
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[211/0223] Col Col verſtekte Geheimniſſe der Schoͤnheit in Farben fuͤhren. Er wird nun beobachten lernen, wie die beyden Hauptmaßen mit einander um den Vorzug der Man- nigfaltigkeit, und der, jeder eigenen Schoͤnheit, ſtrei- ten. Das Helle wird ihn durch Anmuthigkeit und die Lieblichkeit ſchoͤner und in der beſten Harmonie neben einander ſtehender Farben einnehmen; das Dunkle aber wird ihn durch eine ſtrengere Schoͤnheit ruͤhren; durch die Mannigfaltigkeit der Farben, durch ihr Feuer, durch die wunderbare Vermiſchung glaͤnzender und dunkeler Theile, in Bewundrung ſetzen. Unter tauſend unnennbaren, durch man- cherley Wiederſcheine noch mehr vervielfaͤltigten Far- ben, wird er hier und da von blitzenden Stellen ge- gen den dunkeln Grund auf das lebhafteſte geruͤhrt. Er empfindet, daß dadurch das Ganze, Leben und Wuͤrkſamkeit bekommt. Mit ſolchen Begriffen von der Schoͤnheit in Far- ben, geht er von der Betrachtung der Natur, auf die Betrachtung der Kunſt. Er ſieht, wie die be- ſten Meiſter der Venetianiſchen und Niederlaͤndiſchen Schulen, die Schoͤnheit der Natur durch eine gluͤk- liche Wahl und Miſchung der Farben auf Holz und Leinwand getragen haben. Jn dem einen bewun- dert er die hoͤchſte Wahrheit; er glaubt die Natur ſelbſt vor ſich zu ſehen; in andern findet er ſogar die Schoͤnheit der Farben bis zum Jdeal erhoben. Denn faͤngt er an zu erforſchen, durch welche Mit- tel es dieſen Kuͤnſtlern gelungen, eine ſolche Zau- berey hervorzubringen. Da lernt er erkennen, daß das vollkommene Colorit eben ſowol ein groſſes Genie erfodere, als die vollkommene Zeichnung der For- men; daß das Mahlen nicht ſowol ein Werk einer geuͤbten Hand, als eines gluͤklichen Genies, einer auf ſcharfſinnige Beobachtungen gegruͤndeten tiefen Einſicht, und eines immer das Beſte waͤhlenden Geſchmaks ſey. Wenn der Mahler ſeinen Geſchmak fuͤr die Wahr- heit und Schoͤnheit des Colorits durch die Beobach- tung der Natur und der Kunſt gebildet hat, ſo bedienet er ſich auch dieſer beyden Mittel, die ſchweere Kunſt der Farbengebung zu ſtudiren. Mit dem durch Genie und Verſtand geſchaͤrften Aug eines Leon- hardo da Vinci, beobachtet er jede beſondere Wuͤr- kung der Farben in der Natur, und bringt das un- gewiſſe und zweifelhafte ſeiner Bemerkungen durch Verſuche zur Gewißheit. Zuerſt erforſchet er, wie blos durch Licht und Schat- ten dasjenige bewuͤrkt wird, was man die Haltung nennt (*). Denn erforſcht er, wie durch hellere und dunklere Farben eine Wuͤrkung kann hervorge- bracht werden, die mit der uͤbereinkommt, die durch Licht und Schatten entſteht (*). Die Beobachtun- gen hieruͤber ſammelt er in der Natur, und ver- mehrt ſie durch Verſuche. Denn ſammelt er die Faͤlle, wo ein heller Koͤrper gegen einen dunkeln Grund geſtellt, oder ein dunkler gegen einen hellen, die wunderbare Wuͤrkung thut, Gegenſtaͤnde wie durch eine Zauberkraft zu entfernen (*). Denn beobachtet er uͤberhaupt die Modificationen, welche die Farben durch Entfernung vom Auge bekommen, wie jeder Koͤrper nach und nach, ſo wie er ſich vom Aug entfernt, immer etwas mehr von der Faͤrbung der Luft annimmt, und wie zuletzt Koͤrper von ganz verſchiedenen Farben in groſſen Entfernungen, mit der allgemeinen Farbe der duftenden Luſt beklei- det werden (*) (*) S. Haltung. (*) S. Helldunkel (*) S. Druker. Zurukwei- chen. Ein langes und ernſtliches Studium erfodert hiernaͤchſt die Erforſchung der Urſachen, wodurch die Harmonie der Farben bewuͤrkt wird. Dieſe wird er hauptſaͤchlich dadurch erforſchen lernen, daß er beobachtet, wie ein Gegenſtand durch ſeine Farbe und durch ſein Licht aus einer Maße andrer hervor- tritt und ſich gleichſam abloͤſet, und der Vereini- gung mit den andern widerſteht. Denn dieſes wird ihn auf die Spur bringen, wie durch eine entgegen- geſetzte Wuͤrkung, verſchiedene Koͤrper in eine Maße zuſammenflieſſen. Dadurch wird er lernen, wie hier eine Erhoͤhung, dort Maͤßigung, ſowol des Lichts, als der beſondern Farben noͤthig ſey. Am ſchweerſten aber wird er zur genauen Kennt- niß der allmaͤhligen Maͤßigung der Farbe jedes Koͤr- pers, von der Stelle an, die das ſtaͤrkſte Licht hat, bis dahin, wo der ſtaͤrkſte Schatten iſt, kommen. Dieſe Kenntniß der Mittelfarben (*) iſt vielleicht der ſchweerſte Theil der Kunſt des Colorits. Ehe man nicht mit dem ſchaͤrfſten Aug unzaͤhlige Beob- achtungen, ſowol aus der Natur als aus der Ar- beit der groͤßten Meiſter geſammelt hat, kann man ſich in dieſem Stuͤk nicht viel verſprechen. Denn kommt endlich noch die Beobachtung der Wieder- ſcheine (*), wodurch die hoͤchſte Wahrheit mit der groͤßten Mannigfaltigkeit verbunden, entſtehet. Zwar iſt dieſer Theil in der Theorie mehr weitlaͤuf- tig als ſchweer. Man kann ſich durch leichte Ver- ſuche, (*) S. Mittelfat- ben. (*) S. Wieder- ſchein. D d 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/223>, abgerufen am 28.03.2024.