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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Die verfassungsmäßigen Begriffe von Gesetz und Verordnung.
Neunzehntes Jahrhundert.

Wir können nun, der obigen Darstellung gegenüber, den Begriff
des Gesetzes und der Verordnung, wie sie in unserem Jahrhundert zur
Geltung gelangt sind, den Begriff und das Recht der verfassungs-
mäßigen Gesetze und Verordnungen nennen. Es wird nicht schwer sein,
das Wesen derselben nunmehr zu bestimmen. Nur muß man dabei sich
weder mit dem specifisch-deutschen Begriffe begnügen, noch auch Frank-
reich und England bloß als interessante Beispiele hinzufügen, wie es
gewöhnlich geschieht. Im Gegentheil muß man davon ausgehen, daß
das Recht der Gesetze und der Verordnungen sich durch einen jener
Processe gebildet hat, welche der europäischen Rechtsgeschichte gemein-
sam
angehören, daß dieß Recht zugleich in jedem Lande ein indivi-
duell gestaltetes
ist und mit dem selbsteigenen Charakter seines öffent-
lichen Rechtslebens auf das Innigste verbunden, und daß wir endlich,
namentlich in Deutschland, noch in der Mitte dieses Processes
stehen. Das deutsche Staatsleben wird noch ein ganzes Menschenalter
brauchen, um über dieß Recht klar und einig zu sein. Um so wichtiger
ist der Versuch, die Sache auf ihre einfachste Grundlage zurückzuführen.

Mit dem Auftreten der staatsbürgerlichen Gesellschaft nämlich und
dem Principe des freien Staatsbürgerthums ist die Identität des Staats-
willens und des individuellen Willens der Fürsten, oder die Identität
von Gesetz und Verordnung unmöglich. Der Staatswille erscheint als
der organisch gebildete Gesammtwille des Volkes; das Recht an dieser
Bildung Theil zu nehmen, ist das eigentliche Wesen des Staatsbürger-
thums; das Recht des so gebildeten Staatswillens ist die staatsbürger-
liche Freiheit. Die Voraussetzung beider ist demnach die Bildung eines
Organes, welches der Träger dieses Willens ist; das ist die Volksver-
tretung. Und so entsteht nun der erste und eigentliche Begriff des Ge-
setzes; das Gesetz ist der, durch den Volkswillen in seinem
verfassungsmäßigen Organe anerkannte Staatswille
.

Es bedarf nun keiner Erinnerung an die furchtbaren Kämpfe,
welche dieser so einfache Gedanke hervorrief. Wohl aber muß man
nunmehr darauf hinweisen, daß derselbe in jener einfachen Form eben
noch keineswegs fertig war. Es war ein Princip. Die organische Har-
monie dieses Princips mit den übrigen Gesetzen des Staatslebens, oder
die spezielle Gestaltung des Begriffes und Rechts des Gesetzes sollte erst
gefunden werden.

Man wird in dieser Beziehung drei Epochen scheiden können.

Die erste dieser Epochen bezeichnet uns gleichsam die Jugend jenes

Die verfaſſungsmäßigen Begriffe von Geſetz und Verordnung.
Neunzehntes Jahrhundert.

Wir können nun, der obigen Darſtellung gegenüber, den Begriff
des Geſetzes und der Verordnung, wie ſie in unſerem Jahrhundert zur
Geltung gelangt ſind, den Begriff und das Recht der verfaſſungs-
mäßigen Geſetze und Verordnungen nennen. Es wird nicht ſchwer ſein,
das Weſen derſelben nunmehr zu beſtimmen. Nur muß man dabei ſich
weder mit dem ſpecifiſch-deutſchen Begriffe begnügen, noch auch Frank-
reich und England bloß als intereſſante Beiſpiele hinzufügen, wie es
gewöhnlich geſchieht. Im Gegentheil muß man davon ausgehen, daß
das Recht der Geſetze und der Verordnungen ſich durch einen jener
Proceſſe gebildet hat, welche der europäiſchen Rechtsgeſchichte gemein-
ſam
angehören, daß dieß Recht zugleich in jedem Lande ein indivi-
duell geſtaltetes
iſt und mit dem ſelbſteigenen Charakter ſeines öffent-
lichen Rechtslebens auf das Innigſte verbunden, und daß wir endlich,
namentlich in Deutſchland, noch in der Mitte dieſes Proceſſes
ſtehen. Das deutſche Staatsleben wird noch ein ganzes Menſchenalter
brauchen, um über dieß Recht klar und einig zu ſein. Um ſo wichtiger
iſt der Verſuch, die Sache auf ihre einfachſte Grundlage zurückzuführen.

Mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nämlich und
dem Principe des freien Staatsbürgerthums iſt die Identität des Staats-
willens und des individuellen Willens der Fürſten, oder die Identität
von Geſetz und Verordnung unmöglich. Der Staatswille erſcheint als
der organiſch gebildete Geſammtwille des Volkes; das Recht an dieſer
Bildung Theil zu nehmen, iſt das eigentliche Weſen des Staatsbürger-
thums; das Recht des ſo gebildeten Staatswillens iſt die ſtaatsbürger-
liche Freiheit. Die Vorausſetzung beider iſt demnach die Bildung eines
Organes, welches der Träger dieſes Willens iſt; das iſt die Volksver-
tretung. Und ſo entſteht nun der erſte und eigentliche Begriff des Ge-
ſetzes; das Geſetz iſt der, durch den Volkswillen in ſeinem
verfaſſungsmäßigen Organe anerkannte Staatswille
.

Es bedarf nun keiner Erinnerung an die furchtbaren Kämpfe,
welche dieſer ſo einfache Gedanke hervorrief. Wohl aber muß man
nunmehr darauf hinweiſen, daß derſelbe in jener einfachen Form eben
noch keineswegs fertig war. Es war ein Princip. Die organiſche Har-
monie dieſes Princips mit den übrigen Geſetzen des Staatslebens, oder
die ſpezielle Geſtaltung des Begriffes und Rechts des Geſetzes ſollte erſt
gefunden werden.

Man wird in dieſer Beziehung drei Epochen ſcheiden können.

Die erſte dieſer Epochen bezeichnet uns gleichſam die Jugend jenes

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[62/0086] Die verfaſſungsmäßigen Begriffe von Geſetz und Verordnung. Neunzehntes Jahrhundert. Wir können nun, der obigen Darſtellung gegenüber, den Begriff des Geſetzes und der Verordnung, wie ſie in unſerem Jahrhundert zur Geltung gelangt ſind, den Begriff und das Recht der verfaſſungs- mäßigen Geſetze und Verordnungen nennen. Es wird nicht ſchwer ſein, das Weſen derſelben nunmehr zu beſtimmen. Nur muß man dabei ſich weder mit dem ſpecifiſch-deutſchen Begriffe begnügen, noch auch Frank- reich und England bloß als intereſſante Beiſpiele hinzufügen, wie es gewöhnlich geſchieht. Im Gegentheil muß man davon ausgehen, daß das Recht der Geſetze und der Verordnungen ſich durch einen jener Proceſſe gebildet hat, welche der europäiſchen Rechtsgeſchichte gemein- ſam angehören, daß dieß Recht zugleich in jedem Lande ein indivi- duell geſtaltetes iſt und mit dem ſelbſteigenen Charakter ſeines öffent- lichen Rechtslebens auf das Innigſte verbunden, und daß wir endlich, namentlich in Deutſchland, noch in der Mitte dieſes Proceſſes ſtehen. Das deutſche Staatsleben wird noch ein ganzes Menſchenalter brauchen, um über dieß Recht klar und einig zu ſein. Um ſo wichtiger iſt der Verſuch, die Sache auf ihre einfachſte Grundlage zurückzuführen. Mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nämlich und dem Principe des freien Staatsbürgerthums iſt die Identität des Staats- willens und des individuellen Willens der Fürſten, oder die Identität von Geſetz und Verordnung unmöglich. Der Staatswille erſcheint als der organiſch gebildete Geſammtwille des Volkes; das Recht an dieſer Bildung Theil zu nehmen, iſt das eigentliche Weſen des Staatsbürger- thums; das Recht des ſo gebildeten Staatswillens iſt die ſtaatsbürger- liche Freiheit. Die Vorausſetzung beider iſt demnach die Bildung eines Organes, welches der Träger dieſes Willens iſt; das iſt die Volksver- tretung. Und ſo entſteht nun der erſte und eigentliche Begriff des Ge- ſetzes; das Geſetz iſt der, durch den Volkswillen in ſeinem verfaſſungsmäßigen Organe anerkannte Staatswille. Es bedarf nun keiner Erinnerung an die furchtbaren Kämpfe, welche dieſer ſo einfache Gedanke hervorrief. Wohl aber muß man nunmehr darauf hinweiſen, daß derſelbe in jener einfachen Form eben noch keineswegs fertig war. Es war ein Princip. Die organiſche Har- monie dieſes Princips mit den übrigen Geſetzen des Staatslebens, oder die ſpezielle Geſtaltung des Begriffes und Rechts des Geſetzes ſollte erſt gefunden werden. Man wird in dieſer Beziehung drei Epochen ſcheiden können. Die erſte dieſer Epochen bezeichnet uns gleichſam die Jugend jenes

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/86>, abgerufen am 24.04.2024.