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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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dieser Chance, die doch an sich für beide Parteien die gleich günstige
oder ungünstige ist, nach der ihm vorteilhaftesten Seite zu erzwingen.
Und wo eine "Zugabe" von seiten des Geldgebers geschieht: gewisse
Formen des Trinkgeldes, etwa bei der Bezahlung des Kellners oder
des Droschkenkutschers -- da drückt sich das Übergewicht des Geld-
gebers in der sozialen Bevorzugtheit aus, die die Voraussetzung des
Trinkgeldes ist. Wie alle Erscheinungen des Geldwesens, ist auch
diese keine innerhalb des Lebenssystems isolierte, sondern bringt gleich-
falls einen Grundzug desselben nur zur reinsten und zugleich äusser-
lichsten Erscheinung: den nämlich, dass in jedem Verhältnis derjenige
im Vorteil ist, dem weniger an dem Inhalt der Beziehung liegt. So
ausgesprochen erscheint dies als ganz paradox, denn grade um so
intensiveres Verlangen uns zu einem Besitz oder einem Verhältnis
zieht, desto tiefer und leidenschaftlicher ist doch auch sein Genuss --
da ja die erwartete Höhe dieses die Stärke des Wollens bestimmt!
Aber grade dies Einzuräumende bewirkt und rechtfertigt den Vorteil
des weniger stark Begehrenden. Denn es ist in der Ordnung, dass
dieser, der von dem Verhältnis weniger hat als der andere, durch irgend
welche Konzessionen seitens des letzteren dafür entschädigt wird. Das
macht sich schon in den feinsten und intimsten Beziehungen geltend.
In jedem auf Liebe gestellten Verhältnis ist der weniger Liebende,
äusserlich genommen, im Vorteil; denn der andere verzichtet von vorn-
herein mehr auf die Ausnutzung des Verhältnisses, ist der Opfer-
willigere, der für das grössere Mass seiner Befriedigungen auch ein
grösseres Mass von Hingebungen bietet. So stellt sich doch eine Ge-
rechtigkeit her: weil das Mass des Begehrens dem Mass der Beglückung
entspricht, ist es in der Ordnung, dass die Gestaltung des Verhältnisses
dem weniger Begehrenden irgend einen Sondervorteil einräume -- den
er auch in der Regel erzwingen kann, weil er der Abwartende, Reser-
vierte, seine Bedingungen Stellende ist. Der Vorteil des Geldgebers
ist deshalb kein schlechthin ungerechter: da in der Waren-Geld-Trans-
aktion er der weniger Begehrende zu sein pflegt, so kommt die Aus-
gleichung beider Seiten grade dadurch zustande, dass der intensiver
Begehrende ihm einen Vorteil über die objektive Äquivalenz der Tausch-
werte hinaus einräumt. Wobei schliesslich auch zu bedenken ist, dass
er den Vorteil nicht geniesst, weil er das Geld hat, sondern weil er
es fortgiebt.

Der Vorteil, den das Geld aus seiner Gelöstheit von allen spezi-
fischen Inhalten und Bewegungen der Wirtschaft zieht, äussert sich
noch in andern Erscheinungsreihen, deren Typus es ist, dass bei noch
so starken und ruinösen Erschütterungen der Wirtschaft die eigent-

dieser Chance, die doch an sich für beide Parteien die gleich günstige
oder ungünstige ist, nach der ihm vorteilhaftesten Seite zu erzwingen.
Und wo eine „Zugabe“ von seiten des Geldgebers geschieht: gewisse
Formen des Trinkgeldes, etwa bei der Bezahlung des Kellners oder
des Droschkenkutschers — da drückt sich das Übergewicht des Geld-
gebers in der sozialen Bevorzugtheit aus, die die Voraussetzung des
Trinkgeldes ist. Wie alle Erscheinungen des Geldwesens, ist auch
diese keine innerhalb des Lebenssystems isolierte, sondern bringt gleich-
falls einen Grundzug desselben nur zur reinsten und zugleich äuſser-
lichsten Erscheinung: den nämlich, daſs in jedem Verhältnis derjenige
im Vorteil ist, dem weniger an dem Inhalt der Beziehung liegt. So
ausgesprochen erscheint dies als ganz paradox, denn grade um so
intensiveres Verlangen uns zu einem Besitz oder einem Verhältnis
zieht, desto tiefer und leidenschaftlicher ist doch auch sein Genuſs —
da ja die erwartete Höhe dieses die Stärke des Wollens bestimmt!
Aber grade dies Einzuräumende bewirkt und rechtfertigt den Vorteil
des weniger stark Begehrenden. Denn es ist in der Ordnung, daſs
dieser, der von dem Verhältnis weniger hat als der andere, durch irgend
welche Konzessionen seitens des letzteren dafür entschädigt wird. Das
macht sich schon in den feinsten und intimsten Beziehungen geltend.
In jedem auf Liebe gestellten Verhältnis ist der weniger Liebende,
äuſserlich genommen, im Vorteil; denn der andere verzichtet von vorn-
herein mehr auf die Ausnutzung des Verhältnisses, ist der Opfer-
willigere, der für das gröſsere Maſs seiner Befriedigungen auch ein
gröſseres Maſs von Hingebungen bietet. So stellt sich doch eine Ge-
rechtigkeit her: weil das Maſs des Begehrens dem Maſs der Beglückung
entspricht, ist es in der Ordnung, daſs die Gestaltung des Verhältnisses
dem weniger Begehrenden irgend einen Sondervorteil einräume — den
er auch in der Regel erzwingen kann, weil er der Abwartende, Reser-
vierte, seine Bedingungen Stellende ist. Der Vorteil des Geldgebers
ist deshalb kein schlechthin ungerechter: da in der Waren-Geld-Trans-
aktion er der weniger Begehrende zu sein pflegt, so kommt die Aus-
gleichung beider Seiten grade dadurch zustande, daſs der intensiver
Begehrende ihm einen Vorteil über die objektive Äquivalenz der Tausch-
werte hinaus einräumt. Wobei schlieſslich auch zu bedenken ist, daſs
er den Vorteil nicht genieſst, weil er das Geld hat, sondern weil er
es fortgiebt.

Der Vorteil, den das Geld aus seiner Gelöstheit von allen spezi-
fischen Inhalten und Bewegungen der Wirtschaft zieht, äuſsert sich
noch in andern Erscheinungsreihen, deren Typus es ist, daſs bei noch
so starken und ruinösen Erschütterungen der Wirtschaft die eigent-

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[197/0221] dieser Chance, die doch an sich für beide Parteien die gleich günstige oder ungünstige ist, nach der ihm vorteilhaftesten Seite zu erzwingen. Und wo eine „Zugabe“ von seiten des Geldgebers geschieht: gewisse Formen des Trinkgeldes, etwa bei der Bezahlung des Kellners oder des Droschkenkutschers — da drückt sich das Übergewicht des Geld- gebers in der sozialen Bevorzugtheit aus, die die Voraussetzung des Trinkgeldes ist. Wie alle Erscheinungen des Geldwesens, ist auch diese keine innerhalb des Lebenssystems isolierte, sondern bringt gleich- falls einen Grundzug desselben nur zur reinsten und zugleich äuſser- lichsten Erscheinung: den nämlich, daſs in jedem Verhältnis derjenige im Vorteil ist, dem weniger an dem Inhalt der Beziehung liegt. So ausgesprochen erscheint dies als ganz paradox, denn grade um so intensiveres Verlangen uns zu einem Besitz oder einem Verhältnis zieht, desto tiefer und leidenschaftlicher ist doch auch sein Genuſs — da ja die erwartete Höhe dieses die Stärke des Wollens bestimmt! Aber grade dies Einzuräumende bewirkt und rechtfertigt den Vorteil des weniger stark Begehrenden. Denn es ist in der Ordnung, daſs dieser, der von dem Verhältnis weniger hat als der andere, durch irgend welche Konzessionen seitens des letzteren dafür entschädigt wird. Das macht sich schon in den feinsten und intimsten Beziehungen geltend. In jedem auf Liebe gestellten Verhältnis ist der weniger Liebende, äuſserlich genommen, im Vorteil; denn der andere verzichtet von vorn- herein mehr auf die Ausnutzung des Verhältnisses, ist der Opfer- willigere, der für das gröſsere Maſs seiner Befriedigungen auch ein gröſseres Maſs von Hingebungen bietet. So stellt sich doch eine Ge- rechtigkeit her: weil das Maſs des Begehrens dem Maſs der Beglückung entspricht, ist es in der Ordnung, daſs die Gestaltung des Verhältnisses dem weniger Begehrenden irgend einen Sondervorteil einräume — den er auch in der Regel erzwingen kann, weil er der Abwartende, Reser- vierte, seine Bedingungen Stellende ist. Der Vorteil des Geldgebers ist deshalb kein schlechthin ungerechter: da in der Waren-Geld-Trans- aktion er der weniger Begehrende zu sein pflegt, so kommt die Aus- gleichung beider Seiten grade dadurch zustande, daſs der intensiver Begehrende ihm einen Vorteil über die objektive Äquivalenz der Tausch- werte hinaus einräumt. Wobei schlieſslich auch zu bedenken ist, daſs er den Vorteil nicht genieſst, weil er das Geld hat, sondern weil er es fortgiebt. Der Vorteil, den das Geld aus seiner Gelöstheit von allen spezi- fischen Inhalten und Bewegungen der Wirtschaft zieht, äuſsert sich noch in andern Erscheinungsreihen, deren Typus es ist, daſs bei noch so starken und ruinösen Erschütterungen der Wirtschaft die eigent-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/221>, abgerufen am 24.04.2024.