Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine pse_194.002 reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber pse_194.003 diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung pse_194.004 ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des pse_194.005 Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt pse_194.006 also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein pse_194.007 Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende pse_194.008 Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil pse_194.009 eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine pse_194.010 Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer pse_194.011 stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam pse_194.012 sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden pse_194.013 Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze pse_194.014 kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. pse_194.015 Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält pse_194.016 im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt pse_194.017 ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr pse_194.018 die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner pse_194.019 Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung pse_194.020 und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne pse_194.021 bindende Gesetze.
pse_194.022 Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche pse_194.023 Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir pse_194.024 ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil pse_194.025 leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. pse_194.026 Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders pse_194.027 der Sinn- und Stimmungsträger -- und nur das sollte man als pse_194.028 Sprachmelodie fassen --, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks pse_194.029 beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen, pse_194.030 deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, pse_194.031 stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den pse_194.032 Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit pse_194.033 dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, pse_194.034 Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges pse_194.035 und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von pse_194.036 der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des pse_194.037 Reimes wirken "Brocken" und "Glocken" ganz verschieden, pse_194.038 weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden
pse_194.001
Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine pse_194.002 reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber pse_194.003 diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung pse_194.004 ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des pse_194.005 Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt pse_194.006 also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein pse_194.007 Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende pse_194.008 Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil pse_194.009 eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine pse_194.010 Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer pse_194.011 stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam pse_194.012 sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden pse_194.013 Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze pse_194.014 kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. pse_194.015 Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält pse_194.016 im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt pse_194.017 ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr pse_194.018 die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner pse_194.019 Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung pse_194.020 und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne pse_194.021 bindende Gesetze.
pse_194.022 Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche pse_194.023 Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir pse_194.024 ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil pse_194.025 leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. pse_194.026 Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders pse_194.027 der Sinn- und Stimmungsträger — und nur das sollte man als pse_194.028 Sprachmelodie fassen —, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks pse_194.029 beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen, pse_194.030 deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, pse_194.031 stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den pse_194.032 Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit pse_194.033 dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, pse_194.034 Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges pse_194.035 und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von pse_194.036 der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des pse_194.037 Reimes wirken »Brocken« und »Glocken« ganz verschieden, pse_194.038 weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0210"n="194"/><lbn="pse_194.001"/><p>Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine <lbn="pse_194.002"/>
reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber <lbn="pse_194.003"/>
diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung <lbn="pse_194.004"/>
ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des <lbn="pse_194.005"/>
Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt <lbn="pse_194.006"/>
also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein <lbn="pse_194.007"/>
Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende <lbn="pse_194.008"/>
Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil <lbn="pse_194.009"/>
eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine <lbn="pse_194.010"/>
Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer <lbn="pse_194.011"/>
stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam <lbn="pse_194.012"/>
sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden <lbn="pse_194.013"/>
Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze <lbn="pse_194.014"/>
kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. <lbn="pse_194.015"/>
Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält <lbn="pse_194.016"/>
im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt <lbn="pse_194.017"/>
ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr <lbn="pse_194.018"/>
die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner <lbn="pse_194.019"/>
Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung <lbn="pse_194.020"/>
und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne <lbn="pse_194.021"/>
bindende Gesetze.</p><p><lbn="pse_194.022"/>
Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche <lbn="pse_194.023"/>
Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir <lbn="pse_194.024"/>
ganz kurz hinweg. Schwer ist die <hirendition="#i">Melodie</hi> zu erfassen, weil <lbn="pse_194.025"/>
leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. <lbn="pse_194.026"/>
Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders <lbn="pse_194.027"/>
der Sinn- und Stimmungsträger — und nur das sollte man als <lbn="pse_194.028"/>
Sprachmelodie fassen —, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks <lbn="pse_194.029"/>
beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen, <lbn="pse_194.030"/>
deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, <lbn="pse_194.031"/>
stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den <lbn="pse_194.032"/>
Sprachgebilden auch eine bestimmte <hirendition="#i">Klangart</hi>: alles was mit <lbn="pse_194.033"/>
dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, <lbn="pse_194.034"/>
Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges <lbn="pse_194.035"/>
und vibrierendes Sprechen. Die <hirendition="#i">Sprechart</hi> hängt vor allem von <lbn="pse_194.036"/>
der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des <lbn="pse_194.037"/>
Reimes wirken »Brocken« und »Glocken« ganz verschieden, <lbn="pse_194.038"/>
weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[194/0210]
pse_194.001
Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine pse_194.002
reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber pse_194.003
diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung pse_194.004
ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des pse_194.005
Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt pse_194.006
also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein pse_194.007
Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende pse_194.008
Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil pse_194.009
eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine pse_194.010
Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer pse_194.011
stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam pse_194.012
sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden pse_194.013
Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze pse_194.014
kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. pse_194.015
Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält pse_194.016
im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt pse_194.017
ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr pse_194.018
die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner pse_194.019
Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung pse_194.020
und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne pse_194.021
bindende Gesetze.
pse_194.022
Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche pse_194.023
Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir pse_194.024
ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil pse_194.025
leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. pse_194.026
Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders pse_194.027
der Sinn- und Stimmungsträger — und nur das sollte man als pse_194.028
Sprachmelodie fassen —, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks pse_194.029
beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen, pse_194.030
deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, pse_194.031
stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den pse_194.032
Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit pse_194.033
dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, pse_194.034
Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges pse_194.035
und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von pse_194.036
der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des pse_194.037
Reimes wirken »Brocken« und »Glocken« ganz verschieden, pse_194.038
weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/210>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.