es hin zu erwähnen, daß sie selbst wieder ein Sprößling der Wolff- schen Philosophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo seichte Popularität und Empirismus in der Philosophie das Herrschende waren, wurden die bekannten Theorien der schönen Künste und Wissenschaften aufgestellt, deren Principien die psychologischen Grundsätze der Engländer und Franzosen waren. Man suchte das Schöne aus der empirischen Psychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun- der der Kunst ohngefähr ebenso aufklärend und wegerklärend wie zu derselben Zeit die Gespenstergeschichten und andern Aberglauben. Bruch- stücke dieses Empirismus trifft man selbst noch in späteren, zum Theil nach einer besseren Ansicht gedachten Schriften an.
Andere Aesthetiken sind gewissermaßen Recepte oder Kochbücher, wo das Recept zur Tragödie so lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu- viel; so viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.
Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit seinen übrigen Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerste Geschmack- losigkeit, wie in der Philosophie Geistlosigkeit, zu erwarten. Eine Menge Menschen lernten die Kritik der ästhetischen Urtheilskraft aus- wendig und trugen sie vom Katheder und in Schriften als Aesthetik vor.
Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen zur Idee einer wahren philosophischen Wissenschaft der Kunst und ein- zelne Beiträge zu einer solchen geliefert; noch aber hat keiner ein wis- senschaftliches Ganzes oder auch nur die absoluten Principien selbst -- allgemein gültig und in strenger Form -- aufgestellt; auch ist bei mehreren derselben noch nicht die strenge Sonderung des Empirismus und der Philosophie geschehen, die zur wahren Wissenschaftlichkeit erfor- dert würde.
Das System der Philosophie der Kunst, welches ich vorzutragen denke, wird sich also von den bisher vorhandenen wesentlich und sowohl der Form als dem Gehalt nach unterscheiden, indem ich selbst in den Principien weiter zurückgehe, als bisher geschehen ist. Dieselbe Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der Naturphilosophie bis zu einem gewissen Punkte möglich geworden ist,
es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff- ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun- der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch- ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an.
Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu- viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.
Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack- loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus- wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor.
Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein- zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ- ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die abſoluten Principien ſelbſt — allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor- dert würde.
Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der Naturphiloſophie bis zu einem gewiſſen Punkte möglich geworden iſt,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0038"n="362"/>
es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff-<lb/>ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo<lb/>ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende<lb/>
waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und<lb/>
Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze<lb/>
der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der<lb/>
empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun-<lb/>
der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu<lb/>
derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch-<lb/>ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil<lb/>
nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an.</p><lb/><p>Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo<lb/>
das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu-<lb/>
viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.</p><lb/><p>Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen<lb/>
Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack-<lb/>
loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine<lb/>
Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus-<lb/>
wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor.</p><lb/><p>Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen<lb/>
zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein-<lb/>
zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ-<lb/>ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die <hirendition="#g">abſoluten</hi> Principien ſelbſt<lb/>— allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei<lb/>
mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus<lb/>
und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor-<lb/>
dert würde.</p><lb/><p>Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen<lb/>
denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl<lb/>
der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in<lb/>
den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe<lb/>
Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der<lb/>
Naturphiloſophie bis zu einem gewiſſen Punkte möglich geworden iſt,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[362/0038]
es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff-
ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo
ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende
waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und
Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze
der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der
empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun-
der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu
derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch-
ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil
nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an.
Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo
das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu-
viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.
Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen
Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack-
loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine
Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus-
wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor.
Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen
zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein-
zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ-
ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die abſoluten Principien ſelbſt
— allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei
mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus
und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor-
dert würde.
Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen
denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl
der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in
den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe
Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der
Naturphiloſophie bis zu einem gewiſſen Punkte möglich geworden iſt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/38>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.