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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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es hin zu erwähnen, daß sie selbst wieder ein Sprößling der Wolff-
schen Philosophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo
seichte Popularität und Empirismus in der Philosophie das Herrschende
waren, wurden die bekannten Theorien der schönen Künste und
Wissenschaften aufgestellt, deren Principien die psychologischen Grundsätze
der Engländer und Franzosen waren. Man suchte das Schöne aus der
empirischen Psychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun-
der der Kunst ohngefähr ebenso aufklärend und wegerklärend wie zu
derselben Zeit die Gespenstergeschichten und andern Aberglauben. Bruch-
stücke dieses Empirismus trifft man selbst noch in späteren, zum Theil
nach einer besseren Ansicht gedachten Schriften an.

Andere Aesthetiken sind gewissermaßen Recepte oder Kochbücher, wo
das Recept zur Tragödie so lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu-
viel; so viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.

Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit seinen übrigen
Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerste Geschmack-
losigkeit, wie in der Philosophie Geistlosigkeit, zu erwarten. Eine
Menge Menschen lernten die Kritik der ästhetischen Urtheilskraft aus-
wendig und trugen sie vom Katheder und in Schriften als Aesthetik vor.

Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen
zur Idee einer wahren philosophischen Wissenschaft der Kunst und ein-
zelne Beiträge zu einer solchen geliefert; noch aber hat keiner ein wis-
senschaftliches Ganzes oder auch nur die absoluten Principien selbst
-- allgemein gültig und in strenger Form -- aufgestellt; auch ist bei
mehreren derselben noch nicht die strenge Sonderung des Empirismus
und der Philosophie geschehen, die zur wahren Wissenschaftlichkeit erfor-
dert würde.

Das System der Philosophie der Kunst, welches ich vorzutragen
denke, wird sich also von den bisher vorhandenen wesentlich und sowohl
der Form als dem Gehalt nach unterscheiden, indem ich selbst in
den Principien weiter zurückgehe, als bisher geschehen ist. Dieselbe
Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der
Naturphilosophie bis zu einem gewissen Punkte möglich geworden ist,

es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff-
ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo
ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende
waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und
Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze
der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der
empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun-
der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu
derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch-
ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil
nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an.

Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo
das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu-
viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.

Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen
Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack-
loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine
Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus-
wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor.

Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen
zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein-
zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ-
ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die abſoluten Principien ſelbſt
— allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei
mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus
und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor-
dert würde.

Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen
denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl
der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in
den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe
Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der
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[362/0038] es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff- ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun- der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch- ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an. Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu- viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl. Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack- loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus- wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor. Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein- zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ- ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die abſoluten Principien ſelbſt — allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor- dert würde. Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der Naturphiloſophie bis zu einem gewiſſen Punkte möglich geworden iſt,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/38>, abgerufen am 25.04.2024.