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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Nichts liegt in allem, was uns Sophokles von seiner Auf-
fassung eines jenseitigen Daseins wahrnehmen lässt, was von
dem Glauben derer, die nach der Väter Weise das Leben
verstanden und die Götter verehrten, sich unterschiede. Der
grosse Dichter menschlicher Trauergeschicke, der tief sinnende
Betrachter göttlichen Waltens auf der dunklen Erde, wollte
dieser dennoch ein helleres Gegenbild in einem Gedanken-
reiche des Geisterlebens nicht tröstlich zur Seite stellen. Er
bescheidet sich auch hierin; er weiss von diesen Geheimnissen
nichts mehr und nichts anderes als "irgend ein anderer
wackerer Bürger von Athen" 1).

8.

Sophokles konnte in langem Lebensgange zum vollendeten
Meister der Kunst, zum ganzen Mann und Menschen sich aus-
bilden, ohne die Leitung und Hilfe theologischer oder philo-
sophischer Reflexion. Die Theologie suchte er in ihrem Ver-
steck, im Dunkel abgesonderter Secten, nicht auf; die Philo-
sophie war in der Zeit seiner bildsamen Jugend nach Athen
kaum vorgedrungen; in reiferen Jahren konnte der erhabenen
Einfalt seiner Sinnesweise keine, aus dem Gedanken geborene
Weisheit oder Thorheit der jüngeren Geschlechter förderlich
oder gefährlich werden. Unberührt schreitet er mitten durch
das Gedränge und den Streit des Marktes.

Der Trieb und Zug, der seit dem Ausgange des sechsten
Jahrhunderts alle geistigen Kräfte griechischer Landschaften
nach Athen zu einer letzten und höchsten Steigerung ihres
Vermögens zusammenführte, ergriff, wie vorlängst die musischen
Künste, um die Mitte des fünften Jahrhunderts auch die Philo-
sophie. Athen sah die letzten Vertreter ionischer Physio-
logie in seinen Mauern, dauernd niedergelassen, und den vor-
nehmsten Geistern tiefe Spuren ihrer Lehre einprägend, wie
Anaxagoras, oder zu kürzerem Aufenthalt anwesend, wie jene

1) Auch hierin os an tis eis ton khreston Athenaion (Ion bei Athen.
13, 604 d.).

Nichts liegt in allem, was uns Sophokles von seiner Auf-
fassung eines jenseitigen Daseins wahrnehmen lässt, was von
dem Glauben derer, die nach der Väter Weise das Leben
verstanden und die Götter verehrten, sich unterschiede. Der
grosse Dichter menschlicher Trauergeschicke, der tief sinnende
Betrachter göttlichen Waltens auf der dunklen Erde, wollte
dieser dennoch ein helleres Gegenbild in einem Gedanken-
reiche des Geisterlebens nicht tröstlich zur Seite stellen. Er
bescheidet sich auch hierin; er weiss von diesen Geheimnissen
nichts mehr und nichts anderes als „irgend ein anderer
wackerer Bürger von Athen“ 1).

8.

Sophokles konnte in langem Lebensgange zum vollendeten
Meister der Kunst, zum ganzen Mann und Menschen sich aus-
bilden, ohne die Leitung und Hilfe theologischer oder philo-
sophischer Reflexion. Die Theologie suchte er in ihrem Ver-
steck, im Dunkel abgesonderter Secten, nicht auf; die Philo-
sophie war in der Zeit seiner bildsamen Jugend nach Athen
kaum vorgedrungen; in reiferen Jahren konnte der erhabenen
Einfalt seiner Sinnesweise keine, aus dem Gedanken geborene
Weisheit oder Thorheit der jüngeren Geschlechter förderlich
oder gefährlich werden. Unberührt schreitet er mitten durch
das Gedränge und den Streit des Marktes.

Der Trieb und Zug, der seit dem Ausgange des sechsten
Jahrhunderts alle geistigen Kräfte griechischer Landschaften
nach Athen zu einer letzten und höchsten Steigerung ihres
Vermögens zusammenführte, ergriff, wie vorlängst die musischen
Künste, um die Mitte des fünften Jahrhunderts auch die Philo-
sophie. Athen sah die letzten Vertreter ionischer Physio-
logie in seinen Mauern, dauernd niedergelassen, und den vor-
nehmsten Geistern tiefe Spuren ihrer Lehre einprägend, wie
Anaxagoras, oder zu kürzerem Aufenthalt anwesend, wie jene

1) Auch hierin ὡς ἄν τις εἷς τῶν χρηστῶν Ἀϑηναίων (Ion bei Athen.
13, 604 d.).
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[537/0553] Nichts liegt in allem, was uns Sophokles von seiner Auf- fassung eines jenseitigen Daseins wahrnehmen lässt, was von dem Glauben derer, die nach der Väter Weise das Leben verstanden und die Götter verehrten, sich unterschiede. Der grosse Dichter menschlicher Trauergeschicke, der tief sinnende Betrachter göttlichen Waltens auf der dunklen Erde, wollte dieser dennoch ein helleres Gegenbild in einem Gedanken- reiche des Geisterlebens nicht tröstlich zur Seite stellen. Er bescheidet sich auch hierin; er weiss von diesen Geheimnissen nichts mehr und nichts anderes als „irgend ein anderer wackerer Bürger von Athen“ 1). 8. Sophokles konnte in langem Lebensgange zum vollendeten Meister der Kunst, zum ganzen Mann und Menschen sich aus- bilden, ohne die Leitung und Hilfe theologischer oder philo- sophischer Reflexion. Die Theologie suchte er in ihrem Ver- steck, im Dunkel abgesonderter Secten, nicht auf; die Philo- sophie war in der Zeit seiner bildsamen Jugend nach Athen kaum vorgedrungen; in reiferen Jahren konnte der erhabenen Einfalt seiner Sinnesweise keine, aus dem Gedanken geborene Weisheit oder Thorheit der jüngeren Geschlechter förderlich oder gefährlich werden. Unberührt schreitet er mitten durch das Gedränge und den Streit des Marktes. Der Trieb und Zug, der seit dem Ausgange des sechsten Jahrhunderts alle geistigen Kräfte griechischer Landschaften nach Athen zu einer letzten und höchsten Steigerung ihres Vermögens zusammenführte, ergriff, wie vorlängst die musischen Künste, um die Mitte des fünften Jahrhunderts auch die Philo- sophie. Athen sah die letzten Vertreter ionischer Physio- logie in seinen Mauern, dauernd niedergelassen, und den vor- nehmsten Geistern tiefe Spuren ihrer Lehre einprägend, wie Anaxagoras, oder zu kürzerem Aufenthalt anwesend, wie jene 1) Auch hierin ὡς ἄν τις εἷς τῶν χρηστῶν Ἀϑηναίων (Ion bei Athen. 13, 604 d.).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/553>, abgerufen am 23.11.2024.