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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Heilung die liebe Seele verhüllt wie ihr der
Mai; und er quälte sich still mit Berechnun¬
gen ihrer Leiden und mit Zweifeln an ihrer
Kur. Er schämte sich der Freude während ih¬
rer Trauerzeit und verbot sich den Genuß des
Frühlings und den Besuch von Lilar; ach er
wußte ja auch, es würde durch den liebenden
Frühling und durch das Lilar, wo sie so viele
Freuden und die letzte Wunde empfangen, sein
Herz zu unbändig werden und zu voll.

Sein Durst nach Wissen und Werth, sein
Stolz, der ihm bei dem Vater und seinen bei¬
den Freunden in einem rühmlichen Lichte zu ste¬
hen gebot, trieben ihn in seine Laufbahn hin¬
ein. Mit allem ihm eignen Feuer warf er sich
über die Jurisprudenz und machte keinen an¬
dern Weg mehr als den zwischen dem Hörsaale
und dem Studirzimmer. Zu diesem Eifer
zwang ihn ein eigenthümlicher Trieb nach
Kompletirung; alles Unvollendete war ihm
beinahe ein physischer Greuel; ihn schmerzten
defekte Sammlungen -- abgebrochene Mo¬
natsschriften -- eingeschlafne Prozesse -- Bib¬
liotheken, weil er sie nie auslesen konnte --

Heilung die liebe Seele verhüllt wie ihr der
Mai; und er quälte ſich ſtill mit Berechnun¬
gen ihrer Leiden und mit Zweifeln an ihrer
Kur. Er ſchämte ſich der Freude während ih¬
rer Trauerzeit und verbot ſich den Genuß des
Frühlings und den Beſuch von Lilar; ach er
wußte ja auch, es würde durch den liebenden
Frühling und durch das Lilar, wo ſie ſo viele
Freuden und die letzte Wunde empfangen, ſein
Herz zu unbändig werden und zu voll.

Sein Durſt nach Wiſſen und Werth, ſein
Stolz, der ihm bei dem Vater und ſeinen bei¬
den Freunden in einem rühmlichen Lichte zu ſte¬
hen gebot, trieben ihn in ſeine Laufbahn hin¬
ein. Mit allem ihm eignen Feuer warf er ſich
über die Jurisprudenz und machte keinen an¬
dern Weg mehr als den zwiſchen dem Hörſaale
und dem Studirzimmer. Zu dieſem Eifer
zwang ihn ein eigenthümlicher Trieb nach
Kompletirung; alles Unvollendete war ihm
beinahe ein phyſiſcher Greuel; ihn ſchmerzten
defekte Sammlungen — abgebrochene Mo¬
natsſchriften — eingeſchlafne Prozeſſe — Bib¬
liotheken, weil er ſie nie ausleſen konnte —

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[360/0380] Heilung die liebe Seele verhüllt wie ihr der Mai; und er quälte ſich ſtill mit Berechnun¬ gen ihrer Leiden und mit Zweifeln an ihrer Kur. Er ſchämte ſich der Freude während ih¬ rer Trauerzeit und verbot ſich den Genuß des Frühlings und den Beſuch von Lilar; ach er wußte ja auch, es würde durch den liebenden Frühling und durch das Lilar, wo ſie ſo viele Freuden und die letzte Wunde empfangen, ſein Herz zu unbändig werden und zu voll. Sein Durſt nach Wiſſen und Werth, ſein Stolz, der ihm bei dem Vater und ſeinen bei¬ den Freunden in einem rühmlichen Lichte zu ſte¬ hen gebot, trieben ihn in ſeine Laufbahn hin¬ ein. Mit allem ihm eignen Feuer warf er ſich über die Jurisprudenz und machte keinen an¬ dern Weg mehr als den zwiſchen dem Hörſaale und dem Studirzimmer. Zu dieſem Eifer zwang ihn ein eigenthümlicher Trieb nach Kompletirung; alles Unvollendete war ihm beinahe ein phyſiſcher Greuel; ihn ſchmerzten defekte Sammlungen — abgebrochene Mo¬ natsſchriften — eingeſchlafne Prozeſſe — Bib¬ liotheken, weil er ſie nie ausleſen konnte —

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/380>, abgerufen am 29.11.2024.