Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.Rich. Calwer: Adolf Wagner. aus der Erfahrung gewonnen werden können. Steigen wir nun aber nochweiter hinauf und fragen, ob der einzelne Arbeiter die Jnteressen der Gesamt- arbeiterschaft zu vertreten vermag, so werden wir zugeben müssen, daß dazu nicht mehr die Beobachtungen und Erfahrungen eines Einzelnen genügen, sondern es sind umfassende Kenntnisse erforderlich, die sich zwar der Mann der Praxis aneignen kann, die er aber schließlich doch der wissenschaftlichen Tätigkeit, den oft stark unterschätzten Theoretikern verdankt. Was von Arbeiterfragen gilt, das läßt sich genau so für alle anderen Gebiete nachweisen, in denen der Praktiker oder der Jnteressent das ausschlaggebende Wort beansprucht. Wagner weist das übertriebene Selbstbewußtsein der Jnteressenten und Dieses übertriebene und falsche Selbstbewußtsein entspringt meines Er- So scharf nun Wagner die Schattenseiten des modernen Kastengeistes ver- Rich. Calwer: Adolf Wagner. aus der Erfahrung gewonnen werden können. Steigen wir nun aber nochweiter hinauf und fragen, ob der einzelne Arbeiter die Jnteressen der Gesamt- arbeiterschaft zu vertreten vermag, so werden wir zugeben müssen, daß dazu nicht mehr die Beobachtungen und Erfahrungen eines Einzelnen genügen, sondern es sind umfassende Kenntnisse erforderlich, die sich zwar der Mann der Praxis aneignen kann, die er aber schließlich doch der wissenschaftlichen Tätigkeit, den oft stark unterschätzten Theoretikern verdankt. Was von Arbeiterfragen gilt, das läßt sich genau so für alle anderen Gebiete nachweisen, in denen der Praktiker oder der Jnteressent das ausschlaggebende Wort beansprucht. Wagner weist das übertriebene Selbstbewußtsein der Jnteressenten und Dieses übertriebene und falsche Selbstbewußtsein entspringt meines Er- So scharf nun Wagner die Schattenseiten des modernen Kastengeistes ver- <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0021" n="453"/><fw type="header" place="top">Rich. Calwer: Adolf Wagner.</fw><lb/> aus der Erfahrung gewonnen werden können. Steigen wir nun aber noch<lb/> weiter hinauf und fragen, ob der einzelne Arbeiter die Jnteressen der Gesamt-<lb/> arbeiterschaft zu vertreten vermag, so werden wir zugeben müssen, daß dazu<lb/> nicht mehr die Beobachtungen und Erfahrungen eines Einzelnen genügen,<lb/> sondern es sind umfassende Kenntnisse erforderlich, die sich zwar der Mann der<lb/> Praxis aneignen kann, die er aber schließlich doch der wissenschaftlichen Tätigkeit,<lb/> den oft stark unterschätzten Theoretikern verdankt. 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Auf wirtschaftlichem Gebiete tritt auch noch mehr<lb/> als auf manchem anderen — obwohl auch hier ähnliche Fälle oft vorkommen<lb/> ( politisches, religiöses Gebiet! ) — das Mitspielen des Jnteresses als ein<lb/> störender Faktor auf, schon bei der Anstellung von Beobachtungen selbst, vollends<lb/> bei der kausalen und konditionellen Erklärung des Beobachteten, z. B. bei<lb/> Fragen der Preisbewegung, der Wirtschaftspolitik, bei Beobachtung von Er-<lb/> scheinungen, welche man als Folgen von bestimmten mißliebigen wirtschafts-<lb/> ( handels= usw. ) , finanz=, steuerpolitischen Maßnahmen glaubt erkennen zu<lb/> können.“</p><lb/> <p>Dieses übertriebene und falsche Selbstbewußtsein entspringt meines Er-<lb/> achtens aus einer zwiefachen Quelle: Hauptsächlich aus einem Mangel an Selbst-<lb/> erkenntnis und aus einem Mangel an Wissen. Oder wenn ich mich noch anders<lb/> ausdrücken soll, so scheint mir dieser falsche Dünkel, der heute gewissermaßen<lb/> eine notwendige Eigenschaft der in der Oeffentlichkeit wirkenden Personen<lb/> bildet, aus einer ganz und gar undemokratischen Grundauffassung hervorzu-<lb/> gehen. Die Betätigung dieses übertriebenen Selbstgefühls ist so selbstverständ-<lb/> lich, daß den Einzelnen das Falsche daran gar nicht erst zum Bewußtsein kommt.<lb/> Daher rührt oft die merkwürdige Verbissenheit im politischen, sozialen, wirt-<lb/> schaftlichen und religiösen Kampfe. Je geringer das Verständnis für die Sache<lb/> selbst, desto leidenschaftlicher das Festhalten an der einmal gefaßten Meinung<lb/> und Theorie. Man legt sich gegenseitig auf Schlagworte fest, deren innere<lb/> Berechtigung nachzuprüfen den Nachbetern schon ein Verbrechen ist. Daher<lb/> kommt es, daß die Schüler, die <hi rendition="#aq">in verba magistri</hi> schwören, meist ein schweres<lb/> Hindernis für jeden weiteren Fortschritt bilden. Jn richtiger Erkenntnis dieser<lb/> Erscheinung perhorreszierte denn auch Wagner die Bildung einer eigentlichen<lb/> Schule.</p><lb/> <p>So scharf nun Wagner die Schattenseiten des modernen Kastengeistes ver-<lb/> urteilt, so ist er doch nicht so unklug, sie nicht in ihrer Notwendigkeit zu<lb/> begreifen. Jn Zeiten starker Gegensätze wird dieser Kastengeist eben immer, so<lb/> wie die Menschen vorläufig nun einmal sind, kraß hervortreten. Es können </p> </div> </body> </text> </TEI> [453/0021]
Rich. Calwer: Adolf Wagner.
aus der Erfahrung gewonnen werden können. Steigen wir nun aber noch
weiter hinauf und fragen, ob der einzelne Arbeiter die Jnteressen der Gesamt-
arbeiterschaft zu vertreten vermag, so werden wir zugeben müssen, daß dazu
nicht mehr die Beobachtungen und Erfahrungen eines Einzelnen genügen,
sondern es sind umfassende Kenntnisse erforderlich, die sich zwar der Mann der
Praxis aneignen kann, die er aber schließlich doch der wissenschaftlichen Tätigkeit,
den oft stark unterschätzten Theoretikern verdankt. Was von Arbeiterfragen
gilt, das läßt sich genau so für alle anderen Gebiete nachweisen, in denen der
Praktiker oder der Jnteressent das ausschlaggebende Wort beansprucht.
Wagner weist das übertriebene Selbstbewußtsein der Jnteressenten und
Praktiker mit folgenden Worten treffend zurück: „Ein besonders häufiger
Trugschluß aus der „täglichen Beobachtung“ ist stets und namentlich auf wirt-
schaftlichem Gebiete der des post hoc, ergo propter hoc, wo der mögliche
Kausalzusammenhang gleich zum wirklichen gemacht und ohne weiteres aus
der Zeitfolge der Erscheinungen abgeleitet und dadurch als bewiesen angenommen
wird. Namentlich der ungebildete Praktiker, der Routinier urteilt, gleich dem
großen Haufen der Laien, überall und immer gern so und ist schwer auch nur
einer Belehrung zugänglich. Auf wirtschaftlichem Gebiete tritt auch noch mehr
als auf manchem anderen — obwohl auch hier ähnliche Fälle oft vorkommen
( politisches, religiöses Gebiet! ) — das Mitspielen des Jnteresses als ein
störender Faktor auf, schon bei der Anstellung von Beobachtungen selbst, vollends
bei der kausalen und konditionellen Erklärung des Beobachteten, z. B. bei
Fragen der Preisbewegung, der Wirtschaftspolitik, bei Beobachtung von Er-
scheinungen, welche man als Folgen von bestimmten mißliebigen wirtschafts-
( handels= usw. ) , finanz=, steuerpolitischen Maßnahmen glaubt erkennen zu
können.“
Dieses übertriebene und falsche Selbstbewußtsein entspringt meines Er-
achtens aus einer zwiefachen Quelle: Hauptsächlich aus einem Mangel an Selbst-
erkenntnis und aus einem Mangel an Wissen. Oder wenn ich mich noch anders
ausdrücken soll, so scheint mir dieser falsche Dünkel, der heute gewissermaßen
eine notwendige Eigenschaft der in der Oeffentlichkeit wirkenden Personen
bildet, aus einer ganz und gar undemokratischen Grundauffassung hervorzu-
gehen. Die Betätigung dieses übertriebenen Selbstgefühls ist so selbstverständ-
lich, daß den Einzelnen das Falsche daran gar nicht erst zum Bewußtsein kommt.
Daher rührt oft die merkwürdige Verbissenheit im politischen, sozialen, wirt-
schaftlichen und religiösen Kampfe. Je geringer das Verständnis für die Sache
selbst, desto leidenschaftlicher das Festhalten an der einmal gefaßten Meinung
und Theorie. Man legt sich gegenseitig auf Schlagworte fest, deren innere
Berechtigung nachzuprüfen den Nachbetern schon ein Verbrechen ist. Daher
kommt es, daß die Schüler, die in verba magistri schwören, meist ein schweres
Hindernis für jeden weiteren Fortschritt bilden. Jn richtiger Erkenntnis dieser
Erscheinung perhorreszierte denn auch Wagner die Bildung einer eigentlichen
Schule.
So scharf nun Wagner die Schattenseiten des modernen Kastengeistes ver-
urteilt, so ist er doch nicht so unklug, sie nicht in ihrer Notwendigkeit zu
begreifen. Jn Zeiten starker Gegensätze wird dieser Kastengeist eben immer, so
wie die Menschen vorläufig nun einmal sind, kraß hervortreten. Es können
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