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Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 14. Januar 1929.

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"AZ am Abend" Nr. 11 Montag, den 14. Januar
[Spaltenumbruch]
Mama Rabe macht Rätsel
[Spaltenumbruch]

Unter den vielen Rätseln, die unsere Zeit uns
aufgibt, sind die Silben- und Kreuzwort-Nüsse die
beliebtesten. Eine jegliche Bilderzeitung sorgt da-
für, daß jeder Zeitgenosse allwöchentlich sein Rät-
sel im Topf habe

Mama Rabe ist eine Rätselschlemmerin hohen
Grades. Kaum sieht sie das Kästchenbild der
Kreuzworte, schon wütet sie darin. Kein Wort
aus drei Buchstaben, das sie nicht kennt. Ihr ist
die "Ehe" ebenso geläufig wie "Ast", "Jre",
"Aal", "Aar", "Hai" und "Wal". Und die fin-
nische Stadt "Abo" ist ihr fast ebenso wohl be-
kannt wie die Leopoldstraße in Schwabing. Und
was die Silben-Sammelkünste betrifft, so pickt sie
nach den Wortsetzen wie Huhn nach Körnern.

"Eine brotlose Kunst" sagt Paul, ihr Sohn (und
Materialist).

"Brotlos? Erlaube mal: Gibt's vielleicht keine
Preis-Rätsel?"

Es gibt welche. Aber bei denen "entscheidet
meist das Los." Und wo Los entscheidet, ist meist
wenig los. Denn eine blinde Henne findet leichter
ein Korn als ein Silben-Preisrätsel-Löser einen
Staubsauger oder 10 Büchsen Ia Oelsardinen.

"Mama müßte statt Rätsel zu lösen lieber
welche selber machen. Die Zeitung "Nun rate mal"
zahlt drei Mark pro Stück."

"Drei Mark?" Mama Rabe sperrt die Augen
so sperrangelweit auf, daß die Brille ins Rutschen
kommt. "Ich kann doch mit Leichtigkeit zehn
Stück pro Tag zusammenbringen!" Nie geahnte
Aussichten öffnen sich Mama Rabes Blicken. Sie
hat eine neue Aufgabe, eine Art neuer Lebens-
Idee.

Noch am gleichen Tage holt sie den Büchmann
und sucht Zitate, an deren Buchstaben sich die zu
erratenden Worte einhaken müssen, wie Leiter-
sprossen an den Leiterstangen. Aber, ach, die mei-
sten dieser Aussprüche verwirft sie. Die Dichter,
die sich gern in Zitaten geäußert haben, sind eben
doch zu bekannt. Und -- Mamas Rätsel soll schwer
sein.

Sie klappt den Büchmann zu. Nein, so dumm ist
sie nicht, ein Zitat auszusuchen, das jeder, der den
Büchmann hat, sofort darin nachlesen kann. Und
welcher Deutsche hätte nicht den Büchmann! Sie
beschließt auch das Zitat zu erfinden. Etwa einen
"Ausspruch" aus dem täglichen Leben! Tja, aber
wie spricht man sich im täglichen Leben aus? Sie
kann die Leute doch nicht raten lassen "Minna,
zum Ersten können Sie gehen!" oder "Manche
Leute wissen wirklich nicht, was sich schickt."

"Paul, sag mir eine nette Sentenz, ein Sprich-
oder Dichterswort, das niemand kennt!"

Paul gähnt ausgiebig. "Aber Mama", sagt
Paul, "laß mich mit so was in Frieden. Wo du
doch einen Dichter in der Familie hast!"

Wirklich: ihr Neffe Waldemar Meier ist Poet
und Schmumacher dazu. Denn, wenn er nicht ge-
rade dichtet, beschäftigt er sich damit, in den Ga-
lerien Meisterwerke zu kopieren. Er hat seinen
Tizian so täuschend im Pinsel, daß der Meister
selber zweifeln würde: Hat das Waldemar Meier
oder habe ich das selbst gemacht? Und weil Walde-
mar nun einmal so sehr daran gewöhnt ist, sich
"bereits eingeführter" Vorlagen zu bedienen, so
hat er dieses Prinzip auch auf seine poetische
Tätigkeit übertragen. Er hat seine "Räuber" und
seinen "Götz" bereits hinter sich und ist eben da-
bei, der Welt Goethes "Faust" neu zu schenken.
Dabei weiß er natürlich, fein zu nuancieren, und
Zitate, die er kopiert, haben stets kleine Verschö-
nerungen aufzuweisen. Und -- unbekannt sind die
Meierschen Poesien zur Genüge. In dieser Be-
ziehung kann Mama Rabe unbesorgt sein.

Mama Rabe fand den Rat ihres Sohnes aus-
gezeichnet. Neffe Waldemar kam anderntags zum

[irrelevantes Material]
[Spaltenumbruch]

Mittagessen. Er las nachher seine gesammelten
Werke vor. Als kurz vor Mitternacht der Vers
dran kam: "Flachheit -- dein Name ist Girl" war
Mama Rabe begeistert. Das war mal ein schöner
Vorwurf für ein Silbenrätsel. Kurz und schla-
gend. Mama Rabe baute sich die einzelnen Buch-
staben zurecht und sann dann den erst von ihr
selber zu sezierenden, von der rätsellösenden
Menschheit aber wieder zusammenzusetzenden
Worten nach, F--I? Hm, hier stockte sie schon.

"Paul, was fängt mit F an und hört mit I
auf?"

Paul macht nur: Mäh!

"Paul benimm dich. Ich befehle dir als Mutter,
etwas mit F anfangen und mit I aufhören zu
lassen!"

"Faul" schrie Paul.

"Faul ist einsilbig. Und du bist faul und ein-
silbig." Nein -- die Jugend von heute! Mama
Rabe kaute Federhalter. Federhalter? Nun na-
türlich, ein Federhalterl hatte sie. Fängt mit F
an und endet, wen auch nur kinderzärtlich ange-
redet, mit dem mit Recht so beliebten kleinen l.
-- Mama malt "Federhalterl" auf's Papier.

"Paul, ich muß doch jetzt "Bedeutung der Worte"
hinschreiben. Was bedeutet denn ein "Fe-der-hal-
terl?"

"Eine Schreibmaschine" brummt Paul.

"Fe-der-hal-terl. Hörst du nicht? Doch höchstens
ein Schreibmaschinerl".

"Von mir aus!"

Das Schreibmaschinerl hätte man nun. Aber
weiter: A--ch. Ein Wort mit a--ch. Blech! Wer
a sagt soll auch b sagen, aber nicht gleich ch.
"Paul, bitte, was mit a, das mit ch endet."

"Mama ich will jetzt Abendbrot essen, aber nicht
Worte erfinden."

"Abendbrot?? Ha. halleluja! a--ch? Leichtig-
keit! Abendbrotgemach. Definiert ist auch leicht:
ein Eßzimmer. Lächerlich leicht! Nun, H--e, Heka-
tombe. Ein schönes Wort. Mama hat es neulich
mal irgendwo gelesen. Was aber ist so eine Heka-
tombe? Mama Rabe schwankt zwischen Eis-Ge-
richt und Mörser-Geschoß. I--t. Idiot wäre hier
ein guter Einfall. Aber Idiot ist zu naheliegend.
Ha, Paul, was meinst du zu Infanterist?" ruft
Mama Rabe ihrem Sohne zu. "Definier mir aber
schnell mal einen ..."

"Reichswehrmann" plärrt Paul.

D--e ist leicht gefunden. D--e heißt natürlich
Dostojewske. Einen Dichter muß jedes Silben-
rätsel haben. Mama Rabe jucht: Hurra! Sie hat
sogar einen russischen.

"Aber, Mama. Es heißt doch .. vielmehr er
heißt doch: Dostojewski. Ki. Ki. Hörst du?"

"Ja, meinst du, ich werde es den Leuten so
leicht machen? Sag mir lieber was mit I--n."

"Indanthren".

"Indanthren? Aha, ein affyrischer König."

Mama ersinnt Worte und definiert sie. Ihr
Silbenrätsel wird bildschön. Sie schreibt es sau-
ber ab und schickt es der Redaktion.

Der Redakteur muß sehr gelacht haben, denn
er hat Mama Rabe einen ausführlichen Brief ge-
sandt.Ihr Silbenrätsel sei ja prachtvoll, aber die
"Definitionen". Und: Mama Rabe möge sich noch-
mals hinsetzen und um--definieren.

"Definieren?" sagt Mama Rabe und ist ehrlich
entrüstet. "Ich soll alles definieren. Alles ich, und
für drei Mark? Ja, sollen die Löser denn gar
nichts zu tun haben???"

Mama Rabe versenkt ihr Silbenrätsel in die
Schublade. Sie fühlt sich durchaus als mißverstan-
dene Dichterin. Aber sie hat nun einen "literari-
schen Nachlaß".

"Es ist mir undefinierbar, warum der Redak-
teur mir das Rätsel zurückgesandt hat" sagt sie
vor sich hin. "Un-de-fi-nier-bar .."

"Tja, das ganze Leben ist ein Silbenrätsel"
kommt es dumpf vom Sofa her.

"Meinst du?" fragt Mama Rabe. Denn Paul
hat Philosophie studiert und muß es schließlich
wissen ...

[Spaltenumbruch]
Diktatur und Demokratie
[Spaltenumbruch]

In Europa gibt es zurzeit zwei Regierungs-
systeme: Demokratie und Diktatur. Die Staats-
form der Monarchie schließt dabei das Regie-
rungssystem der Demokratie nicht aus. Jawohl
die Demokratien wie die Diktaturen zeigen sich
in ganz verschiedenen Erscheinungsformen. Die
Vorgänge in Jugoslawien bereichern jetzt das
Regierungssystem der Diktatur um einen neuen
Typ.

Diejenigen politischen Kreise in Deutschland, die
mit dem Gedanken einer Diktatur liebäugeln, be-
finden sich in dem für jeden politischen Radikalis-
mus kennzeichnenden Zustand der Verblendung,
wenn sie die Diktatur in Belgrad als einen neuen
Schlag gegen Demokratie und Parlamentarismus
hinstellen; sie ist in Wirklichkeit
eine Maßnahme gegen das Sabotieren des
Parlamentarismus und zur Wiederherstellung
der vernichteten parlamentarischen Staatsform.

Seitdem im Juni 1928 der Mord in der Skupsch-
tina seinen Einzug und der kroatische Bestandteil
des Parlaments seinen Auszug hielt, bestand kein
Parlament und keine Möglichkeit mehr, auf der
vorhandenen staatsrechtlichen Grundlage zu einem
geordneten parlamentarischen Regierungssystem
zurückzukehren. König Alexander handelte des-
wegen durchaus richtig, wenn er angesichts der
akuten Staatskrisis den vernichteten Parlamen-
tarismus nicht als Dauerzustand hinnahm, son-
dern durch sein Vorgehen den Grund zu seiner
Retablierung zu schaffen sich entschloß. Daß dies
wirklich die Absicht des Königs ist, geht klar aus
seiner Kundgebung hervor, in der er ausdrücklich
[Spaltenumbruch] bekennt, daß der Parlamentarismus als poli-
tisches Mittel entsprechend den "Traditionen
meines unvergeßlichen Vaters auch mein Ideal
geblieben ist".

Es widerspricht durchaus nicht der demokra-
tischen Auffassung vom Staate, daß angesichts
außergewöhnlicher Zustände auch
außergewöhnliche Maßnahmen der Staats-
gewalt gerechtfertigt und geboten

sein können. Daß solche Zustände im jugoslawi-
schen Staate vorliegen, kann keinem Zweifel
unterliegen. Der Staat als solcher wird zwar
von allen an ihm beteiligten völkerschaftlichen
Bestandteilen bejaht, und nur ein Faktor im
Staate wurde vom ganzen Volke als zusammen-
haltende Kraft gewürdigt: der König. Damit war
er auch nach demokratischer Staatsauffassung be-
rechtigt und verpflichtet, sich als einzige staats-
haltende Kraft einzusetzen und zu betätigen.

Bei jeder Diktatur ist das Wesentlichste
nicht das, was an ihrem Anfang steht, sondern
was an ihrem Ende stehen soll und
stehen wird
. In Belgrad handelt es sich um
eine völlige Neuordnung der äußeren und inne-
ren staatlichen Zusammenfassung Jugoslawiens.
Die Zukunft wird zeigen, ob der König nicht nur
den Mut zur entschlossenen Tat, sondern auch die
Klugheit und Charakterstärke hat, die Entwick-
lung von der Diktatur aus in ein normales Re-
gierungssystem überzuleiten. Das europäische und
das deutsche Interesse liegt in der Richtung eines
staatlich und wirtschaftlich konsolidierten jugo-
slawischen Staates.



[Spaltenumbruch]
Was geschieht mit
unbestellbaren Briefen?

Die gewissenhafte Post

Man wundert sich oft darüber, daß bei
der Post, einem solch enormen Betriebe,
alles so reibungslos vonstatten geht; es ist
eigentlich schon eine Seltenheit, wenn ein-
mal eine Sendung abhanden kommt und
dann stellt sich zumeist heraus, daß die
Schuld nicht bei der Post, sondern beim Ab-
sender zu suchen ist. Die Spitzfindigkeit der
Post ist ja schon sprichwörtlich geworden.
Erst kürzlich hat sich der Fall ereignet, daß
eine Karte aus Berlin, die "An den Wurst-
könig der Oberpfalz" adressiert war, tat-
sächlich an den richtigen Mann kam.

Was geschieht nun mit den Briefen, die
infolge unvollständiger oder auch falscher
Adressierung, und mit keinem Absender ver-
sehen, unbestellbar sind? Zunächst wandern
diese
in die Rückbriefstelle,
wo versucht wird, den Absender verschwie-
gen und treu zu ermitteln. Zumeist reicht
dazu schon eine genaue äußere Besichtigung.
Wenn aber das nicht genügt, werden die
Briefe von gewissenhaften und zur Ver-
schwiegenheit verpflichteten Beamten geöff-
net und oft kann schon durch einen Blick
auf die Unterschrift der Absender festgestellt
werden. Auf jeden Fall wird ein Brief nur
soweit gelesen, als dies unbedingt zur Er-
mittlung der Adresse notwendig ist. Sind
nun die Sendungen mit fremden Schrift-
zeichen geschrieben, so wird zur Entzifferung
ein Sprachkundiger herangezogen. Derart
geöffnete Briefe werden mit dem Vermerk
[Spaltenumbruch] versehen: "Zur Ermittlung des Absenders
amtlich geöffnet durch die Oberpostdirektion
N. N." Falls sich in dem Briefe Wertgegen-
stände oder Geld, bzw. Urkunden befinden,
wird die Polizei zu Rate gezogen und
außerdem im Schaltervorraum der Ab-
sendestation ein vierwöchiger Aushang an-
gebracht. Sind jedoch auch diese Ermitt-
lungsversuche ergebnislos verlaufen, so
werden die Postsachen zusammengebündelt
und
drei Monate lang aufbewahrt,
um, falls in der Frist keine Reklamationen
eingelaufen sind, verbrannt zu werden.
Wertsendungen und Geld sowie Urkunden
werden ein Jahr lang aufgehoben und so-
dann versteigert.



Für zehntausend Pfund Prüderie

Die Bewohner von Lewes in England
haben es sich etwas kosten lassen, den Teufel
der Unkeuschheit von ihrer Stadt fernzu-
halten. Der große Sammler E. Warne hatte
der Stadt Rodins berühmte Statue "Der
Kuß" geschenkt, unter der Bedingung, daß
sie im Rathaussaal zur Aufstellung gelange.
Kaum aber hatten die biederen Stadtväter
von Lewes die überraschende Feststellung
gemacht, daß dieser "Kuß" unter zwei --
sit venis verbo! -- splitternackten Persön-
lichkeiten verschiedenen Geschlechts ausge-
tauscht wurde, yls ein einziger Schrei der
Entrüstung durch den sittenreinen Senat
ging. Das Daugergeschenk wurde dem Ge-
ber mit bestem Dank retourniert. -- Als
man in Lewes erfuhr, daß der Wert der
Statue auf 10 000 Pfund Sterling geschätzt
wird, sollen dort doch einige lange Gesichter
gesehen worden sein.



[irrelevantes Material]
„AZ am Abend“ Nr. 11 Montag, den 14. Januar
[Spaltenumbruch]
Mama Rabe macht Rätſel
[Spaltenumbruch]

Unter den vielen Rätſeln, die unſere Zeit uns
aufgibt, ſind die Silben- und Kreuzwort-Nüſſe die
beliebteſten. Eine jegliche Bilderzeitung ſorgt da-
für, daß jeder Zeitgenoſſe allwöchentlich ſein Rät-
ſel im Topf habe

Mama Rabe iſt eine Rätſelſchlemmerin hohen
Grades. Kaum ſieht ſie das Käſtchenbild der
Kreuzworte, ſchon wütet ſie darin. Kein Wort
aus drei Buchſtaben, das ſie nicht kennt. Ihr iſt
die „Ehe“ ebenſo geläufig wie „Aſt“, „Jre“,
„Aal“, „Aar“, „Hai“ und „Wal“. Und die fin-
niſche Stadt „Abo“ iſt ihr faſt ebenſo wohl be-
kannt wie die Leopoldſtraße in Schwabing. Und
was die Silben-Sammelkünſte betrifft, ſo pickt ſie
nach den Wortſetzen wie Huhn nach Körnern.

„Eine brotloſe Kunſt“ ſagt Paul, ihr Sohn (und
Materialiſt).

„Brotlos? Erlaube mal: Gibt’s vielleicht keine
Preis-Rätſel?“

Es gibt welche. Aber bei denen „entſcheidet
meiſt das Los.“ Und wo Los entſcheidet, iſt meiſt
wenig los. Denn eine blinde Henne findet leichter
ein Korn als ein Silben-Preisrätſel-Löſer einen
Staubſauger oder 10 Büchſen Ia Oelſardinen.

„Mama müßte ſtatt Rätſel zu löſen lieber
welche ſelber machen. Die Zeitung „Nun rate mal“
zahlt drei Mark pro Stück.“

„Drei Mark?“ Mama Rabe ſperrt die Augen
ſo ſperrangelweit auf, daß die Brille ins Rutſchen
kommt. „Ich kann doch mit Leichtigkeit zehn
Stück pro Tag zuſammenbringen!“ Nie geahnte
Ausſichten öffnen ſich Mama Rabes Blicken. Sie
hat eine neue Aufgabe, eine Art neuer Lebens-
Idee.

Noch am gleichen Tage holt ſie den Büchmann
und ſucht Zitate, an deren Buchſtaben ſich die zu
erratenden Worte einhaken müſſen, wie Leiter-
ſproſſen an den Leiterſtangen. Aber, ach, die mei-
ſten dieſer Ausſprüche verwirft ſie. Die Dichter,
die ſich gern in Zitaten geäußert haben, ſind eben
doch zu bekannt. Und — Mamas Rätſel ſoll ſchwer
ſein.

Sie klappt den Büchmann zu. Nein, ſo dumm iſt
ſie nicht, ein Zitat auszuſuchen, das jeder, der den
Büchmann hat, ſofort darin nachleſen kann. Und
welcher Deutſche hätte nicht den Büchmann! Sie
beſchließt auch das Zitat zu erfinden. Etwa einen
„Ausſpruch“ aus dem täglichen Leben! Tja, aber
wie ſpricht man ſich im täglichen Leben aus? Sie
kann die Leute doch nicht raten laſſen „Minna,
zum Erſten können Sie gehen!“ oder „Manche
Leute wiſſen wirklich nicht, was ſich ſchickt.“

„Paul, ſag mir eine nette Sentenz, ein Sprich-
oder Dichterswort, das niemand kennt!“

Paul gähnt ausgiebig. „Aber Mama“, ſagt
Paul, „laß mich mit ſo was in Frieden. Wo du
doch einen Dichter in der Familie haſt!“

Wirklich: ihr Neffe Waldemar Meier iſt Poet
und Schmumacher dazu. Denn, wenn er nicht ge-
rade dichtet, beſchäftigt er ſich damit, in den Ga-
lerien Meiſterwerke zu kopieren. Er hat ſeinen
Tizian ſo täuſchend im Pinſel, daß der Meiſter
ſelber zweifeln würde: Hat das Waldemar Meier
oder habe ich das ſelbſt gemacht? Und weil Walde-
mar nun einmal ſo ſehr daran gewöhnt iſt, ſich
„bereits eingeführter“ Vorlagen zu bedienen, ſo
hat er dieſes Prinzip auch auf ſeine poetiſche
Tätigkeit übertragen. Er hat ſeine „Räuber“ und
ſeinen „Götz“ bereits hinter ſich und iſt eben da-
bei, der Welt Goethes „Fauſt“ neu zu ſchenken.
Dabei weiß er natürlich, fein zu nuancieren, und
Zitate, die er kopiert, haben ſtets kleine Verſchö-
nerungen aufzuweiſen. Und — unbekannt ſind die
Meierſchen Poeſien zur Genüge. In dieſer Be-
ziehung kann Mama Rabe unbeſorgt ſein.

Mama Rabe fand den Rat ihres Sohnes aus-
gezeichnet. Neffe Waldemar kam anderntags zum

[irrelevantes Material]
[Spaltenumbruch]

Mittageſſen. Er las nachher ſeine geſammelten
Werke vor. Als kurz vor Mitternacht der Vers
dran kam: „Flachheit — dein Name iſt Girl“ war
Mama Rabe begeiſtert. Das war mal ein ſchöner
Vorwurf für ein Silbenrätſel. Kurz und ſchla-
gend. Mama Rabe baute ſich die einzelnen Buch-
ſtaben zurecht und ſann dann den erſt von ihr
ſelber zu ſezierenden, von der rätſellöſenden
Menſchheit aber wieder zuſammenzuſetzenden
Worten nach, F—I? Hm, hier ſtockte ſie ſchon.

„Paul, was fängt mit F an und hört mit I
auf?“

Paul macht nur: Mäh!

„Paul benimm dich. Ich befehle dir als Mutter,
etwas mit F anfangen und mit I aufhören zu
laſſen!“

„Faul“ ſchrie Paul.

„Faul iſt einſilbig. Und du biſt faul und ein-
ſilbig.“ Nein — die Jugend von heute! Mama
Rabe kaute Federhalter. Federhalter? Nun na-
türlich, ein Federhalterl hatte ſie. Fängt mit F
an und endet, wen auch nur kinderzärtlich ange-
redet, mit dem mit Recht ſo beliebten kleinen l.
— Mama malt „Federhalterl“ auf’s Papier.

„Paul, ich muß doch jetzt „Bedeutung der Worte“
hinſchreiben. Was bedeutet denn ein „Fe-der-hal-
terl?“

„Eine Schreibmaſchine“ brummt Paul.

„Fe-der-hal-terl. Hörſt du nicht? Doch höchſtens
ein Schreibmaſchinerl“.

„Von mir aus!“

Das Schreibmaſchinerl hätte man nun. Aber
weiter: A—ch. Ein Wort mit a—ch. Blech! Wer
a ſagt ſoll auch b ſagen, aber nicht gleich ch.
„Paul, bitte, was mit a, das mit ch endet.“

„Mama ich will jetzt Abendbrot eſſen, aber nicht
Worte erfinden.“

„Abendbrot?? Ha. halleluja! a—ch? Leichtig-
keit! Abendbrotgemach. Definiert iſt auch leicht:
ein Eßzimmer. Lächerlich leicht! Nun, H—e, Heka-
tombe. Ein ſchönes Wort. Mama hat es neulich
mal irgendwo geleſen. Was aber iſt ſo eine Heka-
tombe? Mama Rabe ſchwankt zwiſchen Eis-Ge-
richt und Mörſer-Geſchoß. I—t. Idiot wäre hier
ein guter Einfall. Aber Idiot iſt zu naheliegend.
Ha, Paul, was meinſt du zu Infanteriſt?“ ruft
Mama Rabe ihrem Sohne zu. „Definier mir aber
ſchnell mal einen ...“

„Reichswehrmann“ plärrt Paul.

D—e iſt leicht gefunden. D—e heißt natürlich
Doſtojewſke. Einen Dichter muß jedes Silben-
rätſel haben. Mama Rabe jucht: Hurra! Sie hat
ſogar einen ruſſiſchen.

„Aber, Mama. Es heißt doch .. vielmehr er
heißt doch: Doſtojewſki. Ki. Ki. Hörſt du?“

„Ja, meinſt du, ich werde es den Leuten ſo
leicht machen? Sag mir lieber was mit I—n.“

„Indanthren“.

„Indanthren? Aha, ein affyriſcher König.“

Mama erſinnt Worte und definiert ſie. Ihr
Silbenrätſel wird bildſchön. Sie ſchreibt es ſau-
ber ab und ſchickt es der Redaktion.

Der Redakteur muß ſehr gelacht haben, denn
er hat Mama Rabe einen ausführlichen Brief ge-
ſandt.Ihr Silbenrätſel ſei ja prachtvoll, aber die
„Definitionen“. Und: Mama Rabe möge ſich noch-
mals hinſetzen und um—definieren.

„Definieren?“ ſagt Mama Rabe und iſt ehrlich
entrüſtet. „Ich ſoll alles definieren. Alles ich, und
für drei Mark? Ja, ſollen die Löſer denn gar
nichts zu tun haben???“

Mama Rabe verſenkt ihr Silbenrätſel in die
Schublade. Sie fühlt ſich durchaus als mißverſtan-
dene Dichterin. Aber ſie hat nun einen „literari-
ſchen Nachlaß“.

„Es iſt mir undefinierbar, warum der Redak-
teur mir das Rätſel zurückgeſandt hat“ ſagt ſie
vor ſich hin. „Un-de-fi-nier-bar ..“

„Tja, das ganze Leben iſt ein Silbenrätſel“
kommt es dumpf vom Sofa her.

„Meinſt du?“ fragt Mama Rabe. Denn Paul
hat Philoſophie ſtudiert und muß es ſchließlich
wiſſen ...

[Spaltenumbruch]
Diktatur und Demokratie
[Spaltenumbruch]

In Europa gibt es zurzeit zwei Regierungs-
ſyſteme: Demokratie und Diktatur. Die Staats-
form der Monarchie ſchließt dabei das Regie-
rungsſyſtem der Demokratie nicht aus. Jawohl
die Demokratien wie die Diktaturen zeigen ſich
in ganz verſchiedenen Erſcheinungsformen. Die
Vorgänge in Jugoſlawien bereichern jetzt das
Regierungsſyſtem der Diktatur um einen neuen
Typ.

Diejenigen politiſchen Kreiſe in Deutſchland, die
mit dem Gedanken einer Diktatur liebäugeln, be-
finden ſich in dem für jeden politiſchen Radikalis-
mus kennzeichnenden Zuſtand der Verblendung,
wenn ſie die Diktatur in Belgrad als einen neuen
Schlag gegen Demokratie und Parlamentarismus
hinſtellen; ſie iſt in Wirklichkeit
eine Maßnahme gegen das Sabotieren des
Parlamentarismus und zur Wiederherſtellung
der vernichteten parlamentariſchen Staatsform.

Seitdem im Juni 1928 der Mord in der Skupſch-
tina ſeinen Einzug und der kroatiſche Beſtandteil
des Parlaments ſeinen Auszug hielt, beſtand kein
Parlament und keine Möglichkeit mehr, auf der
vorhandenen ſtaatsrechtlichen Grundlage zu einem
geordneten parlamentariſchen Regierungsſyſtem
zurückzukehren. König Alexander handelte des-
wegen durchaus richtig, wenn er angeſichts der
akuten Staatskriſis den vernichteten Parlamen-
tarismus nicht als Dauerzuſtand hinnahm, ſon-
dern durch ſein Vorgehen den Grund zu ſeiner
Retablierung zu ſchaffen ſich entſchloß. Daß dies
wirklich die Abſicht des Königs iſt, geht klar aus
ſeiner Kundgebung hervor, in der er ausdrücklich
[Spaltenumbruch] bekennt, daß der Parlamentarismus als poli-
tiſches Mittel entſprechend den „Traditionen
meines unvergeßlichen Vaters auch mein Ideal
geblieben iſt“.

Es widerſpricht durchaus nicht der demokra-
tiſchen Auffaſſung vom Staate, daß angeſichts
außergewöhnlicher Zuſtände auch
außergewöhnliche Maßnahmen der Staats-
gewalt gerechtfertigt und geboten

ſein können. Daß ſolche Zuſtände im jugoſlawi-
ſchen Staate vorliegen, kann keinem Zweifel
unterliegen. Der Staat als ſolcher wird zwar
von allen an ihm beteiligten völkerſchaftlichen
Beſtandteilen bejaht, und nur ein Faktor im
Staate wurde vom ganzen Volke als zuſammen-
haltende Kraft gewürdigt: der König. Damit war
er auch nach demokratiſcher Staatsauffaſſung be-
rechtigt und verpflichtet, ſich als einzige ſtaats-
haltende Kraft einzuſetzen und zu betätigen.

Bei jeder Diktatur iſt das Weſentlichſte
nicht das, was an ihrem Anfang ſteht, ſondern
was an ihrem Ende ſtehen ſoll und
ſtehen wird
. In Belgrad handelt es ſich um
eine völlige Neuordnung der äußeren und inne-
ren ſtaatlichen Zuſammenfaſſung Jugoſlawiens.
Die Zukunft wird zeigen, ob der König nicht nur
den Mut zur entſchloſſenen Tat, ſondern auch die
Klugheit und Charakterſtärke hat, die Entwick-
lung von der Diktatur aus in ein normales Re-
gierungsſyſtem überzuleiten. Das europäiſche und
das deutſche Intereſſe liegt in der Richtung eines
ſtaatlich und wirtſchaftlich konſolidierten jugo-
ſlawiſchen Staates.



[Spaltenumbruch]
Was geſchieht mit
unbeſtellbaren Briefen?

Die gewiſſenhafte Poſt

Man wundert ſich oft darüber, daß bei
der Poſt, einem ſolch enormen Betriebe,
alles ſo reibungslos vonſtatten geht; es iſt
eigentlich ſchon eine Seltenheit, wenn ein-
mal eine Sendung abhanden kommt und
dann ſtellt ſich zumeiſt heraus, daß die
Schuld nicht bei der Poſt, ſondern beim Ab-
ſender zu ſuchen iſt. Die Spitzfindigkeit der
Poſt iſt ja ſchon ſprichwörtlich geworden.
Erſt kürzlich hat ſich der Fall ereignet, daß
eine Karte aus Berlin, die „An den Wurſt-
könig der Oberpfalz“ adreſſiert war, tat-
ſächlich an den richtigen Mann kam.

Was geſchieht nun mit den Briefen, die
infolge unvollſtändiger oder auch falſcher
Adreſſierung, und mit keinem Abſender ver-
ſehen, unbeſtellbar ſind? Zunächſt wandern
dieſe
in die Rückbriefſtelle,
wo verſucht wird, den Abſender verſchwie-
gen und treu zu ermitteln. Zumeiſt reicht
dazu ſchon eine genaue äußere Beſichtigung.
Wenn aber das nicht genügt, werden die
Briefe von gewiſſenhaften und zur Ver-
ſchwiegenheit verpflichteten Beamten geöff-
net und oft kann ſchon durch einen Blick
auf die Unterſchrift der Abſender feſtgeſtellt
werden. Auf jeden Fall wird ein Brief nur
ſoweit geleſen, als dies unbedingt zur Er-
mittlung der Adreſſe notwendig iſt. Sind
nun die Sendungen mit fremden Schrift-
zeichen geſchrieben, ſo wird zur Entzifferung
ein Sprachkundiger herangezogen. Derart
geöffnete Briefe werden mit dem Vermerk
[Spaltenumbruch] verſehen: „Zur Ermittlung des Abſenders
amtlich geöffnet durch die Oberpoſtdirektion
N. N.“ Falls ſich in dem Briefe Wertgegen-
ſtände oder Geld, bzw. Urkunden befinden,
wird die Polizei zu Rate gezogen und
außerdem im Schaltervorraum der Ab-
ſendeſtation ein vierwöchiger Aushang an-
gebracht. Sind jedoch auch dieſe Ermitt-
lungsverſuche ergebnislos verlaufen, ſo
werden die Poſtſachen zuſammengebündelt
und
drei Monate lang aufbewahrt,
um, falls in der Friſt keine Reklamationen
eingelaufen ſind, verbrannt zu werden.
Wertſendungen und Geld ſowie Urkunden
werden ein Jahr lang aufgehoben und ſo-
dann verſteigert.



Für zehntauſend Pfund Prüderie

Die Bewohner von Lewes in England
haben es ſich etwas koſten laſſen, den Teufel
der Unkeuſchheit von ihrer Stadt fernzu-
halten. Der große Sammler E. Warne hatte
der Stadt Rodins berühmte Statue „Der
Kuß“ geſchenkt, unter der Bedingung, daß
ſie im Rathausſaal zur Aufſtellung gelange.
Kaum aber hatten die biederen Stadtväter
von Lewes die überraſchende Feſtſtellung
gemacht, daß dieſer „Kuß“ unter zwei —
ſit venis verbo! — ſplitternackten Perſön-
lichkeiten verſchiedenen Geſchlechts ausge-
tauſcht wurde, yls ein einziger Schrei der
Entrüſtung durch den ſittenreinen Senat
ging. Das Daugergeſchenk wurde dem Ge-
ber mit beſtem Dank retourniert. — Als
man in Lewes erfuhr, daß der Wert der
Statue auf 10 000 Pfund Sterling geſchätzt
wird, ſollen dort doch einige lange Geſichter
geſehen worden ſein.



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[10/0010] „AZ am Abend“ Nr. 11 Montag, den 14. Januar Mama Rabe macht Rätſel Von Richard Rieß Unter den vielen Rätſeln, die unſere Zeit uns aufgibt, ſind die Silben- und Kreuzwort-Nüſſe die beliebteſten. Eine jegliche Bilderzeitung ſorgt da- für, daß jeder Zeitgenoſſe allwöchentlich ſein Rät- ſel im Topf habe Mama Rabe iſt eine Rätſelſchlemmerin hohen Grades. Kaum ſieht ſie das Käſtchenbild der Kreuzworte, ſchon wütet ſie darin. Kein Wort aus drei Buchſtaben, das ſie nicht kennt. Ihr iſt die „Ehe“ ebenſo geläufig wie „Aſt“, „Jre“, „Aal“, „Aar“, „Hai“ und „Wal“. Und die fin- niſche Stadt „Abo“ iſt ihr faſt ebenſo wohl be- kannt wie die Leopoldſtraße in Schwabing. Und was die Silben-Sammelkünſte betrifft, ſo pickt ſie nach den Wortſetzen wie Huhn nach Körnern. „Eine brotloſe Kunſt“ ſagt Paul, ihr Sohn (und Materialiſt). „Brotlos? Erlaube mal: Gibt’s vielleicht keine Preis-Rätſel?“ Es gibt welche. Aber bei denen „entſcheidet meiſt das Los.“ Und wo Los entſcheidet, iſt meiſt wenig los. Denn eine blinde Henne findet leichter ein Korn als ein Silben-Preisrätſel-Löſer einen Staubſauger oder 10 Büchſen Ia Oelſardinen. „Mama müßte ſtatt Rätſel zu löſen lieber welche ſelber machen. Die Zeitung „Nun rate mal“ zahlt drei Mark pro Stück.“ „Drei Mark?“ Mama Rabe ſperrt die Augen ſo ſperrangelweit auf, daß die Brille ins Rutſchen kommt. „Ich kann doch mit Leichtigkeit zehn Stück pro Tag zuſammenbringen!“ Nie geahnte Ausſichten öffnen ſich Mama Rabes Blicken. Sie hat eine neue Aufgabe, eine Art neuer Lebens- Idee. Noch am gleichen Tage holt ſie den Büchmann und ſucht Zitate, an deren Buchſtaben ſich die zu erratenden Worte einhaken müſſen, wie Leiter- ſproſſen an den Leiterſtangen. Aber, ach, die mei- ſten dieſer Ausſprüche verwirft ſie. Die Dichter, die ſich gern in Zitaten geäußert haben, ſind eben doch zu bekannt. Und — Mamas Rätſel ſoll ſchwer ſein. Sie klappt den Büchmann zu. Nein, ſo dumm iſt ſie nicht, ein Zitat auszuſuchen, das jeder, der den Büchmann hat, ſofort darin nachleſen kann. Und welcher Deutſche hätte nicht den Büchmann! Sie beſchließt auch das Zitat zu erfinden. Etwa einen „Ausſpruch“ aus dem täglichen Leben! Tja, aber wie ſpricht man ſich im täglichen Leben aus? Sie kann die Leute doch nicht raten laſſen „Minna, zum Erſten können Sie gehen!“ oder „Manche Leute wiſſen wirklich nicht, was ſich ſchickt.“ „Paul, ſag mir eine nette Sentenz, ein Sprich- oder Dichterswort, das niemand kennt!“ Paul gähnt ausgiebig. „Aber Mama“, ſagt Paul, „laß mich mit ſo was in Frieden. Wo du doch einen Dichter in der Familie haſt!“ Wirklich: ihr Neffe Waldemar Meier iſt Poet und Schmumacher dazu. Denn, wenn er nicht ge- rade dichtet, beſchäftigt er ſich damit, in den Ga- lerien Meiſterwerke zu kopieren. Er hat ſeinen Tizian ſo täuſchend im Pinſel, daß der Meiſter ſelber zweifeln würde: Hat das Waldemar Meier oder habe ich das ſelbſt gemacht? Und weil Walde- mar nun einmal ſo ſehr daran gewöhnt iſt, ſich „bereits eingeführter“ Vorlagen zu bedienen, ſo hat er dieſes Prinzip auch auf ſeine poetiſche Tätigkeit übertragen. Er hat ſeine „Räuber“ und ſeinen „Götz“ bereits hinter ſich und iſt eben da- bei, der Welt Goethes „Fauſt“ neu zu ſchenken. Dabei weiß er natürlich, fein zu nuancieren, und Zitate, die er kopiert, haben ſtets kleine Verſchö- nerungen aufzuweiſen. Und — unbekannt ſind die Meierſchen Poeſien zur Genüge. In dieſer Be- ziehung kann Mama Rabe unbeſorgt ſein. Mama Rabe fand den Rat ihres Sohnes aus- gezeichnet. Neffe Waldemar kam anderntags zum _ Mittageſſen. Er las nachher ſeine geſammelten Werke vor. Als kurz vor Mitternacht der Vers dran kam: „Flachheit — dein Name iſt Girl“ war Mama Rabe begeiſtert. Das war mal ein ſchöner Vorwurf für ein Silbenrätſel. Kurz und ſchla- gend. Mama Rabe baute ſich die einzelnen Buch- ſtaben zurecht und ſann dann den erſt von ihr ſelber zu ſezierenden, von der rätſellöſenden Menſchheit aber wieder zuſammenzuſetzenden Worten nach, F—I? Hm, hier ſtockte ſie ſchon. „Paul, was fängt mit F an und hört mit I auf?“ Paul macht nur: Mäh! „Paul benimm dich. Ich befehle dir als Mutter, etwas mit F anfangen und mit I aufhören zu laſſen!“ „Faul“ ſchrie Paul. „Faul iſt einſilbig. Und du biſt faul und ein- ſilbig.“ Nein — die Jugend von heute! Mama Rabe kaute Federhalter. Federhalter? Nun na- türlich, ein Federhalterl hatte ſie. Fängt mit F an und endet, wen auch nur kinderzärtlich ange- redet, mit dem mit Recht ſo beliebten kleinen l. — Mama malt „Federhalterl“ auf’s Papier. „Paul, ich muß doch jetzt „Bedeutung der Worte“ hinſchreiben. Was bedeutet denn ein „Fe-der-hal- terl?“ „Eine Schreibmaſchine“ brummt Paul. „Fe-der-hal-terl. Hörſt du nicht? Doch höchſtens ein Schreibmaſchinerl“. „Von mir aus!“ Das Schreibmaſchinerl hätte man nun. Aber weiter: A—ch. Ein Wort mit a—ch. Blech! Wer a ſagt ſoll auch b ſagen, aber nicht gleich ch. „Paul, bitte, was mit a, das mit ch endet.“ „Mama ich will jetzt Abendbrot eſſen, aber nicht Worte erfinden.“ „Abendbrot?? Ha. halleluja! a—ch? Leichtig- keit! Abendbrotgemach. Definiert iſt auch leicht: ein Eßzimmer. Lächerlich leicht! Nun, H—e, Heka- tombe. Ein ſchönes Wort. Mama hat es neulich mal irgendwo geleſen. Was aber iſt ſo eine Heka- tombe? Mama Rabe ſchwankt zwiſchen Eis-Ge- richt und Mörſer-Geſchoß. I—t. Idiot wäre hier ein guter Einfall. Aber Idiot iſt zu naheliegend. Ha, Paul, was meinſt du zu Infanteriſt?“ ruft Mama Rabe ihrem Sohne zu. „Definier mir aber ſchnell mal einen ...“ „Reichswehrmann“ plärrt Paul. D—e iſt leicht gefunden. D—e heißt natürlich Doſtojewſke. Einen Dichter muß jedes Silben- rätſel haben. Mama Rabe jucht: Hurra! Sie hat ſogar einen ruſſiſchen. „Aber, Mama. Es heißt doch .. vielmehr er heißt doch: Doſtojewſki. Ki. Ki. Hörſt du?“ „Ja, meinſt du, ich werde es den Leuten ſo leicht machen? Sag mir lieber was mit I—n.“ „Indanthren“. „Indanthren? Aha, ein affyriſcher König.“ Mama erſinnt Worte und definiert ſie. Ihr Silbenrätſel wird bildſchön. Sie ſchreibt es ſau- ber ab und ſchickt es der Redaktion. Der Redakteur muß ſehr gelacht haben, denn er hat Mama Rabe einen ausführlichen Brief ge- ſandt.Ihr Silbenrätſel ſei ja prachtvoll, aber die „Definitionen“. Und: Mama Rabe möge ſich noch- mals hinſetzen und um—definieren. „Definieren?“ ſagt Mama Rabe und iſt ehrlich entrüſtet. „Ich ſoll alles definieren. Alles ich, und für drei Mark? Ja, ſollen die Löſer denn gar nichts zu tun haben???“ Mama Rabe verſenkt ihr Silbenrätſel in die Schublade. Sie fühlt ſich durchaus als mißverſtan- dene Dichterin. Aber ſie hat nun einen „literari- ſchen Nachlaß“. „Es iſt mir undefinierbar, warum der Redak- teur mir das Rätſel zurückgeſandt hat“ ſagt ſie vor ſich hin. „Un-de-fi-nier-bar ..“ „Tja, das ganze Leben iſt ein Silbenrätſel“ kommt es dumpf vom Sofa her. „Meinſt du?“ fragt Mama Rabe. Denn Paul hat Philoſophie ſtudiert und muß es ſchließlich wiſſen ... Diktatur und Demokratie Von Dr. Külz, Reichsminiſter a. D. In Europa gibt es zurzeit zwei Regierungs- ſyſteme: Demokratie und Diktatur. Die Staats- form der Monarchie ſchließt dabei das Regie- rungsſyſtem der Demokratie nicht aus. Jawohl die Demokratien wie die Diktaturen zeigen ſich in ganz verſchiedenen Erſcheinungsformen. Die Vorgänge in Jugoſlawien bereichern jetzt das Regierungsſyſtem der Diktatur um einen neuen Typ. Diejenigen politiſchen Kreiſe in Deutſchland, die mit dem Gedanken einer Diktatur liebäugeln, be- finden ſich in dem für jeden politiſchen Radikalis- mus kennzeichnenden Zuſtand der Verblendung, wenn ſie die Diktatur in Belgrad als einen neuen Schlag gegen Demokratie und Parlamentarismus hinſtellen; ſie iſt in Wirklichkeit eine Maßnahme gegen das Sabotieren des Parlamentarismus und zur Wiederherſtellung der vernichteten parlamentariſchen Staatsform. Seitdem im Juni 1928 der Mord in der Skupſch- tina ſeinen Einzug und der kroatiſche Beſtandteil des Parlaments ſeinen Auszug hielt, beſtand kein Parlament und keine Möglichkeit mehr, auf der vorhandenen ſtaatsrechtlichen Grundlage zu einem geordneten parlamentariſchen Regierungsſyſtem zurückzukehren. König Alexander handelte des- wegen durchaus richtig, wenn er angeſichts der akuten Staatskriſis den vernichteten Parlamen- tarismus nicht als Dauerzuſtand hinnahm, ſon- dern durch ſein Vorgehen den Grund zu ſeiner Retablierung zu ſchaffen ſich entſchloß. Daß dies wirklich die Abſicht des Königs iſt, geht klar aus ſeiner Kundgebung hervor, in der er ausdrücklich bekennt, daß der Parlamentarismus als poli- tiſches Mittel entſprechend den „Traditionen meines unvergeßlichen Vaters auch mein Ideal geblieben iſt“. Es widerſpricht durchaus nicht der demokra- tiſchen Auffaſſung vom Staate, daß angeſichts außergewöhnlicher Zuſtände auch außergewöhnliche Maßnahmen der Staats- gewalt gerechtfertigt und geboten ſein können. Daß ſolche Zuſtände im jugoſlawi- ſchen Staate vorliegen, kann keinem Zweifel unterliegen. Der Staat als ſolcher wird zwar von allen an ihm beteiligten völkerſchaftlichen Beſtandteilen bejaht, und nur ein Faktor im Staate wurde vom ganzen Volke als zuſammen- haltende Kraft gewürdigt: der König. Damit war er auch nach demokratiſcher Staatsauffaſſung be- rechtigt und verpflichtet, ſich als einzige ſtaats- haltende Kraft einzuſetzen und zu betätigen. Bei jeder Diktatur iſt das Weſentlichſte nicht das, was an ihrem Anfang ſteht, ſondern was an ihrem Ende ſtehen ſoll und ſtehen wird. In Belgrad handelt es ſich um eine völlige Neuordnung der äußeren und inne- ren ſtaatlichen Zuſammenfaſſung Jugoſlawiens. Die Zukunft wird zeigen, ob der König nicht nur den Mut zur entſchloſſenen Tat, ſondern auch die Klugheit und Charakterſtärke hat, die Entwick- lung von der Diktatur aus in ein normales Re- gierungsſyſtem überzuleiten. Das europäiſche und das deutſche Intereſſe liegt in der Richtung eines ſtaatlich und wirtſchaftlich konſolidierten jugo- ſlawiſchen Staates. Was geſchieht mit unbeſtellbaren Briefen? Die gewiſſenhafte Poſt Man wundert ſich oft darüber, daß bei der Poſt, einem ſolch enormen Betriebe, alles ſo reibungslos vonſtatten geht; es iſt eigentlich ſchon eine Seltenheit, wenn ein- mal eine Sendung abhanden kommt und dann ſtellt ſich zumeiſt heraus, daß die Schuld nicht bei der Poſt, ſondern beim Ab- ſender zu ſuchen iſt. Die Spitzfindigkeit der Poſt iſt ja ſchon ſprichwörtlich geworden. Erſt kürzlich hat ſich der Fall ereignet, daß eine Karte aus Berlin, die „An den Wurſt- könig der Oberpfalz“ adreſſiert war, tat- ſächlich an den richtigen Mann kam. Was geſchieht nun mit den Briefen, die infolge unvollſtändiger oder auch falſcher Adreſſierung, und mit keinem Abſender ver- ſehen, unbeſtellbar ſind? Zunächſt wandern dieſe in die Rückbriefſtelle, wo verſucht wird, den Abſender verſchwie- gen und treu zu ermitteln. Zumeiſt reicht dazu ſchon eine genaue äußere Beſichtigung. Wenn aber das nicht genügt, werden die Briefe von gewiſſenhaften und zur Ver- ſchwiegenheit verpflichteten Beamten geöff- net und oft kann ſchon durch einen Blick auf die Unterſchrift der Abſender feſtgeſtellt werden. Auf jeden Fall wird ein Brief nur ſoweit geleſen, als dies unbedingt zur Er- mittlung der Adreſſe notwendig iſt. Sind nun die Sendungen mit fremden Schrift- zeichen geſchrieben, ſo wird zur Entzifferung ein Sprachkundiger herangezogen. Derart geöffnete Briefe werden mit dem Vermerk verſehen: „Zur Ermittlung des Abſenders amtlich geöffnet durch die Oberpoſtdirektion N. N.“ Falls ſich in dem Briefe Wertgegen- ſtände oder Geld, bzw. Urkunden befinden, wird die Polizei zu Rate gezogen und außerdem im Schaltervorraum der Ab- ſendeſtation ein vierwöchiger Aushang an- gebracht. Sind jedoch auch dieſe Ermitt- lungsverſuche ergebnislos verlaufen, ſo werden die Poſtſachen zuſammengebündelt und drei Monate lang aufbewahrt, um, falls in der Friſt keine Reklamationen eingelaufen ſind, verbrannt zu werden. Wertſendungen und Geld ſowie Urkunden werden ein Jahr lang aufgehoben und ſo- dann verſteigert. Für zehntauſend Pfund Prüderie Die Bewohner von Lewes in England haben es ſich etwas koſten laſſen, den Teufel der Unkeuſchheit von ihrer Stadt fernzu- halten. Der große Sammler E. Warne hatte der Stadt Rodins berühmte Statue „Der Kuß“ geſchenkt, unter der Bedingung, daß ſie im Rathausſaal zur Aufſtellung gelange. Kaum aber hatten die biederen Stadtväter von Lewes die überraſchende Feſtſtellung gemacht, daß dieſer „Kuß“ unter zwei — ſit venis verbo! — ſplitternackten Perſön- lichkeiten verſchiedenen Geſchlechts ausge- tauſcht wurde, yls ein einziger Schrei der Entrüſtung durch den ſittenreinen Senat ging. Das Daugergeſchenk wurde dem Ge- ber mit beſtem Dank retourniert. — Als man in Lewes erfuhr, daß der Wert der Statue auf 10 000 Pfund Sterling geſchätzt wird, ſollen dort doch einige lange Geſichter geſehen worden ſein. _

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 14. Januar 1929, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine11_1929/10>, abgerufen am 23.11.2024.