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Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] abermals einen Schlag ins Wasser gethan hat, aber es ist doch nicht unmöglich daß
derselbe auf die Regierungen der beiden zunächst betheiligten Staaten einen ge-
wissen moralischen Eindruck übt.

Das auf Grund des in der Frühjahrssession gefaßten Beschlusses über den
Antrag Wiggers-Völk (vgl. Nr. 194 d. "Allg. Ztg.") erwartete neue Preßgesetz ist
dem Reichstag dießmal noch nicht vorgelegt, aber für die nächste Sitzungsperiode
angekündigt worden. Ebensowenig ist der im Frühjahr unerledigt gebliebene Antrag
Schulze auf Erlaß eines Gesetzes betreffend die privatrechtliche Stellung von Ver-
einen zur Verhandlung gekommen. Der Antragsteller glaubte die Sache nicht
wieder in Anregung bringen zu dürfen, weil auch er beim Beginn der Sitzungen
die allgemeine Ansicht theilte daß der Reichstag nur wenige Wochen versammelt
bleiben wird.

Am Freitag den 1 Dec. standen die Schlußberathungen über das Militär-
gesetz und den Reichshaushalts-Etat, sowie zahlreiche Petitionsberichte, auf der
Tagesordnung. Die übrigen Regierungsvorlagen waren sämmtlich bereits er-
ledigt, und man gab sich der Hoffnung hin daß der Reichstag am folgenden Tage
werde geschlossen werden, obgleich der Präsident noch beim Beginn der Sitzung gegen
einzelne Abgeordnete Zweifel darüber geäußert hatte ob es auch nur möglich sein
werde bis zum nächsten Montag alle Rückstände zur Erledigung zu bringen. Bald
nach 5 Uhr kam es zur Schlußabstimmung über das Haushalts-Etatgesetz, das
"mit sehr großer Mehrheit" angenommen wurde. Außer Ewald, Kryger (Haders-
leben) und den Polen, die noch in letzter Stunde ihr abstimmiges Votum motivirt
hatten, blieben nur ein paar Mitglieder des Centrums, sowie Dr. Wigard und ein
oder zwei andere Mitglieder der Fortschrittspartei bei der Abstimmung sitzen.
Ich möchte glauben daß die letztern Herren dieß nur deßhalb thaten, um nochmals
ihre Unzufriedenheit mit dem kurz vorher definitiv angenommenen Militärgesetz zu
manifestiren, und weil sie wußten daß sie doch in der Minderheit bleiben würden.
Sie scheinen sich nicht klar gemacht zu haben daß man niemals gegen ein Gesetz
stimmen sollte dessen Verwerfung man selbst beklagen würde.

Das Haus hatte kaum den letzten Thaler bewilligt, und sich noch nicht ein-
mal darüber ausgesprochen ob es, ungeachtet der vorgerückten Stunde, in der Be-
rathung der Tagesordnung fortfahren wolle, als der Präsident des Reichskanzler-
amtes das Wort verlangte. Nachdem er angezeigt daß die verbündeten Regierun-
gen einem Wunsche des Reichstags, und namentlich solcher Mitglieder desselben
welche Preußen nicht angehörten und parlamentarische Pflichten auch in der Hei-
math zu erfüllen hätten, entgegenzukommen glaubten, wenn sie, von der herkömm-
lichen Form abweichend, die Session jetzt und im Sitzungssaale schlössen, verlas er
eine vom 29 Nov. datirte allerhöchste Botschaft, die ihn ermächtigte die Sitzungen
des gegenwärtigen Reichstags im Namen des Kaisers und der verbündeten Regie-
rungen am 1 Dec. zu schließen. An die Verlesung dieser Botschaft knüpfte er,
gleichfalls auf allerhöchsten Befehl und im Namen der verbündeten Regierungen,
einige Worte des Dankes für die aufopfernde Thätigkeit und die patriotische Hin-
gebung des Reichstags, und erklärte dann sofort die Sitzung für geschlossen. Dem
Alterspräsidenten v. Franckenberg-Ludwigsdorff, der sich während dieser kurzen
Rede zum Wort zur Geschäftsordnung gemeldet hatte, um dem Präsidium den
üblichen nach den vorgefallenen Mißverständnissen doppelt angebrachten Dank der
Versammlung auszusprechen, und auch dem Präsidenten selbst, der sich vorbehalten
mußte die hergebrachte statistische Uebersicht über die Summe der Arbeiten des
Reichstags durch den Druck zur Kenntniß desselben zu bringen, wurde dadurch das
Wort abgeschnitten. Es blieb dem Präsidenten nur übrig mit einem Hoch auf
Se. Maj. den Kaiser auch seinerseits die Sitzung zu schließen.

Die Ueberraschung über dieses unerwartete Ende der Session war allgemein.
Die Worte: "Der Mohr hat seine Arbeit gethan, der Mohr kann gehen," waren
in aller Munde. Wenn dem Verfahren des Präsidenten des Reichskanzleramts
auch schwerlich eine verletzende Absicht zu Grunde lag, so hatte derselbe doch eine
bureaukratische Ungeschicklichkeit begangen, die bei seiner großen Geschäftserfahrung
und nach seinem ganzen sonstigen Verhalten nahezu unerklärlich bleibt. Wie die
erste Session des ersten Deutschen Reichstags in Folge des noch immer der Aus-
führung harrenden Dotationsgesetzes, so endete leider auch die zweite mit einem
Mißklang.

Außer einem aus dem Schooße der Versammlung hervorgegangenen Antrage
blieben in Folge des plötzlichen Schlusses des Reichstags 117 Petitionen unerledigt,
obgleich über die weitaus größere Hälfte derselben die betreffenden Commissions-
berichte bereits vorlagen.

Die vorstehenden Rückblicke, in welchen übrigens nur die Hauptmomente
berührt sind, werden beweisen daß der Reichstag in seiner letzten Session in kürzerer
Zeit verhältnißmäßig viel mehr als in seiner langen ersten Sitzungsperiode geleistet
hat, und daß mehrere Fragen welche ihn beschäftigten, ungleich größeres Interesse
boten als die im Frühjahr behandelten Gegenstände. Dennoch hörte man häufig,
insbesondere während der ersten Wochen, sowohl in Abgeordneten-Kreisen als im
Publicum, das die weiten Tribünen fast immer bis auf den letzten Platz füllte,
darüber klagen daß der Deutsche Reichstag langweiliger und nachgiebiger sei als
seine Vorgänger, der constituirende und der Norddeutsche Reichstag. Die Erklärung
für beides ist leicht gefunden.

Solange es galt den Norddeutschen Bund nicht nur zu begründen und aus-
zubauen, sondern ihn zum Deutschen Reiche zu erweitern, häuften sich naturgemäß
die großen politischen Fragen. Dazu kam daß die Partei-Gegensätze welche die
Ereignisse von 1866 hervorgerufen hatten, ungleich schroffer waren als dieß im
Deutschen Reiche der Fall ist, das seine Entstehung dem von Nord- und Süddeutsch-
land gemeinschaftlich geführten Kriege gegen einen auswärtigen Feind verdankt.
Nicht minder kommt in Betracht daß im Norddeutschen Bund eine Reichstags-
session im Jahre für die Erledigung der regelmäßigen Geschäfte genügte, das Ar-
beitsmaterial damals im ganzen gleichmäßiger als jetzt über die ganze Sitzungs-
periode vertheilt, und das Fractionswesen noch nicht, wie jetzt, in dem Maß ent-
wickelt war daß Windthorst (Meppen) kürzlich, ohne stark zu übertreiben, sagen
konnte: daß die öffentlichen Verhandlungen in den meisten Fällen dadurch für die
Abstienmung ihre Bedeutung verlören, wenn sie auch Material für die Wissenschaft
und für den andern Factor der Gefetzgebung abgäben. Es ist leider wahr daß die
[Spaltenumbruch] meisten Fractionen, völlig verschieden von den Parteiversammlungen des englischen
Parlaments und des amerikanischen Congresses, alle und jede für das Plenum be-
stimmten Gegenstände fast ebenso gründlich durchberathen, und in ihren Kreisen
ebenso zur Abstimmung bringen als wenn jede von ihnen allein in letzter Instanz
zu beschließen hätte. Das mag für Einzelne sehr belehrend sein, aber es hat zur
Folge daß mancher dieselben Reden zweimal hören muß, bei den öffentlichen Ver-
handlungen nur ausnahmsweise neue Argumente und Gesichtspunkte zum Vorschein
kommen, und man selbst auf den Tribünen bisweilen die Empfindung hat: es
werde nur ein vorher eingeübtes Schauspiel aufgeführt. Der Redelust thut das
allerdings nur insofern Eintrag als Einzelne sich in jeder folgenden Session seltener
als in der vorangegangenen hören lassen. Von der kleinen Zahl die bei jeder Ge-
legenheit das Wort ergreifen zu müssen glaubt, erinnert aber immer der eine oder
andere an die Worte Elihu's, des Sohnes Baracheels (Hiob 32 V. 18): "Denn
ich bin der Rede so voll, daß mich der Odem in meinem Bauch ängstet."

Was die vermeintlich übergroße Nachgiebigkeit des Reichstags betrifft, so
hatte Bebel nicht ganz Unrecht als er bei der Generaldebatte über den Haushalts-
etat äußerte: "Eine wirklich oppositionelle Partei gegen die Regierung gibt es in
diesem Hause überhaupt gar nicht; die gesammte liberale Partei ohne Ausnahme
geht in allen wesentlichen Fragen mit der Regierung Hand in Hand, und wo sich
einmal irgend ein bißchen Opposition sindet, hat die Regierung diese Opposition durch-
aus nicht zu fürchten." Daß eine systematische Opposition im Reichstag nicht vor-
handen ist, darf man gewiß als ein Glück betrachten. Daß die Regierung, sobald
sie ihren Einfluß in die Wagschale wirft, fast bei allen Dingen auf eine Mehrheit
rechnen kann, ist die natürliche Nachwirkung ihrer großen Erfolge im letzten Jahre,
so wie des Umstandes daß die Reichstagswahlen unter dem Eindruck dieser Erfolge
stattfanden. Ob es nicht im eigenen Interesse der Regierung wäre wenn sie dann
und wann auf eine etwas stärkere Opposition stieße, ist eine andere Fage. Wenn
man von dem ab und zu in der Fortschrittspartei hervortretenden Doctrinarismus
absieht, so besteht der Hauptunterschied zwischen den drei liberalen Parteien im
Grunde nur in Temperamentsverschiedenheiten und historischen Reminiscenzen,
doch scheint die liberale Reichspartei es nebenbei als ihre erfreuliche Aufgabe an-
zusehen die Gegensätze zu vermitteln. Nicht unmöglich ist es übrigens daß schon
die nächste Reichstagssession eine neue Parteibildung bringt, da die Verhandlungen
über das Militärgesetz den in der ebenso zahlreichen, wie an heterogenen Elementen
reichen nationalliberalen Partei schon längst vorhandenen und schon oft auch dem
unbetheiligten Beobachter bemerkbaren Riß so vertieft haben, daß es mindestens
fraglich ist ob das bei vielen ihrer Mitglieder herrschende Gefühl der Unentbehr-
lichkeit einer solchen großen Partei, auch im Interesse des Reichs und Reichstages
selbst, die Auflösung desselben verhindern wird, zumal da das Vertrauen in ein-
zelne ihrer Führer stark erschüttert zu sein scheint.

Als ich nach der Annahme des Büsing'schen Antrags über die Verfassungs-
frage gegen einen Abgeordneten meine Zweifel darüber äußerte ob die verbündeten
Regierungen denselben zur Folge ziehen würden, stimmte er mir mit den Worten
bei: der Reichstag sei für den Bundesrath im Grunde nur der Chor, welcher zu
dem Solo des Fürsten Bismarck das "Ja" zu singen habe; er wälze den Stein
des Sisyphus in dieser wie in manchen andern Fragen; aber der Reichstag sei bei
alledem, auch wenn er jetzt zu schlafen scheine, ein Riese, der, wenn einmal im Laufe
der Zeit ein Umschlag eintrete, Neuwahlen seine Composition änderten, und er erwache,
einen ganz anders interessanten, ja zugleich einen gefährlichen Charakter annehmen
könnte, während der Bundesrath, wenn er dem schon wieder auftauchenden Stre-
ben nach Unitarismus nicht rechtzeitig Widerstand entgegensetze, Gefahr laufe mit
der Zeit in das Reichskanzleramt aufzugehen. -- Mir sind diese Worte wie ein
Symptom einer ziemlich weit verbreiteten Mißstimmung erschienen. Gewiß ist
daß die Rücksichtslosigkeit welche die Bundesregierung während der letzten Sitzungs-
periode wiederholt gegen den Reichstag bewiesen hat, vielen Mitgliedern desselben
die Freudigkeit benahm, mit der sie im Frühjahr zur ersten Session erschie-
nen, und daß einzelne von ihnen, die zugleich Mitglieder von Landtagen eines
Einzelstaats sind, sogar den Verhandlungen dieser jetzt wieder größere Theilnahme
zuwenden, weil sie dadurch näher berührt werden, die Resultate ihrer Arbeiten in
den Landtagen ihnen sichtbarer und unmittelbarer als im Reichstage vor Augen
treten, und sie immer darauf rechnen können daß die heimische Regierung ihren
Wünschen mehr entgegenkommt. Das sollte nicht so sein, und ich habe es deßhalb
für richtig gehalten diese unerfreuliche Erscheinung zu signalisiren, denn noch ist
das Uebel gering und die Abhülfe leicht.



Aus Rußland.

Während Sie heute draußen im jungen
Deutschen Reiche das erste Weihnachtsfest feiern, schreibe ich Ihnen hier meine
Epistel unter dem Druck des Alltaglebens. Denn kann man auch hier den kür-
zesten Tag, der um 10 Uhr beginnt, und schon zwischen 2 und 3 Uhr endigt, nicht
um 14 Tage hinausschieben, und haben wir auch hier das schönste Weihnachts-
wetter, Schnee und Eis, wie es sein muß, so zwingt uns der Kalendermann doch
heute erst den 13 December zu schreiben, und auch die hiesigen Deutschen feiern das
Christfest erst in 12 Tagen zusammen mit den Russen. Nur ein einziger mächtiger
Weihnachtsbaum brannte gestern auf der Newa-Insel Petrowski, die halb noch
zur Stadt, halb schon zu den Umgebungen St. Petersburgs gehört, und Hunderte
von Schlitten führten deutschredende Bewohner hinaus um das heil. Christfest just
an demselben Tage zu feiern wie im lieben deutschen Vaterlande. Hr. Süß, der
Restaurationspächter der Actienbrauerei "Bavaria," hatte den Baum seinen
Landsleuten angezündet, milden Zwecken des Wohlthuns dienend. Sein Local,
dessen schattiger von prächtigen Eichen geschmückter Garten an der gondelreichen
Newa im Sommer die Zuflucht der hiesigen Deutschen ist, war um des milden
Zweckes willen auch mitten im Winter bis unter das Dach gefüllt, und ein halbes
Taufend Rubel bildete den Ertrag, der nach Abzug der Unkosten dem Wohl-
thätigkeitsvereine zugeflossen ist.

Die hiesige Presse zehrt noch immer von der Anwesenheit des Prinzen
Friedrich Karl und der deutschen Generale. Am bemerkenswerthesten in dieser

[Spaltenumbruch] abermals einen Schlag ins Waſſer gethan hat, aber es iſt doch nicht unmöglich daß
derſelbe auf die Regierungen der beiden zunächſt betheiligten Staaten einen ge-
wiſſen moraliſchen Eindruck übt.

Das auf Grund des in der Frühjahrsſeſſion gefaßten Beſchluſſes über den
Antrag Wiggers-Völk (vgl. Nr. 194 d. „Allg. Ztg.“) erwartete neue Preßgeſetz iſt
dem Reichstag dießmal noch nicht vorgelegt, aber für die nächſte Sitzungsperiode
angekündigt worden. Ebenſowenig iſt der im Frühjahr unerledigt gebliebene Antrag
Schulze auf Erlaß eines Geſetzes betreffend die privatrechtliche Stellung von Ver-
einen zur Verhandlung gekommen. Der Antragſteller glaubte die Sache nicht
wieder in Anregung bringen zu dürfen, weil auch er beim Beginn der Sitzungen
die allgemeine Anſicht theilte daß der Reichstag nur wenige Wochen verſammelt
bleiben wird.

Am Freitag den 1 Dec. ſtanden die Schlußberathungen über das Militär-
geſetz und den Reichshaushalts-Etat, ſowie zahlreiche Petitionsberichte, auf der
Tagesordnung. Die übrigen Regierungsvorlagen waren ſämmtlich bereits er-
ledigt, und man gab ſich der Hoffnung hin daß der Reichstag am folgenden Tage
werde geſchloſſen werden, obgleich der Präſident noch beim Beginn der Sitzung gegen
einzelne Abgeordnete Zweifel darüber geäußert hatte ob es auch nur möglich ſein
werde bis zum nächſten Montag alle Rückſtände zur Erledigung zu bringen. Bald
nach 5 Uhr kam es zur Schlußabſtimmung über das Haushalts-Etatgeſetz, das
„mit ſehr großer Mehrheit“ angenommen wurde. Außer Ewald, Kryger (Haders-
leben) und den Polen, die noch in letzter Stunde ihr abſtimmiges Votum motivirt
hatten, blieben nur ein paar Mitglieder des Centrums, ſowie Dr. Wigard und ein
oder zwei andere Mitglieder der Fortſchrittspartei bei der Abſtimmung ſitzen.
Ich möchte glauben daß die letztern Herren dieß nur deßhalb thaten, um nochmals
ihre Unzufriedenheit mit dem kurz vorher definitiv angenommenen Militärgeſetz zu
manifeſtiren, und weil ſie wußten daß ſie doch in der Minderheit bleiben würden.
Sie ſcheinen ſich nicht klar gemacht zu haben daß man niemals gegen ein Geſetz
ſtimmen ſollte deſſen Verwerfung man ſelbſt beklagen würde.

Das Haus hatte kaum den letzten Thaler bewilligt, und ſich noch nicht ein-
mal darüber ausgeſprochen ob es, ungeachtet der vorgerückten Stunde, in der Be-
rathung der Tagesordnung fortfahren wolle, als der Präſident des Reichskanzler-
amtes das Wort verlangte. Nachdem er angezeigt daß die verbündeten Regierun-
gen einem Wunſche des Reichstags, und namentlich ſolcher Mitglieder desſelben
welche Preußen nicht angehörten und parlamentariſche Pflichten auch in der Hei-
math zu erfüllen hätten, entgegenzukommen glaubten, wenn ſie, von der herkömm-
lichen Form abweichend, die Seſſion jetzt und im Sitzungsſaale ſchlöſſen, verlas er
eine vom 29 Nov. datirte allerhöchſte Botſchaft, die ihn ermächtigte die Sitzungen
des gegenwärtigen Reichstags im Namen des Kaiſers und der verbündeten Regie-
rungen am 1 Dec. zu ſchließen. An die Verleſung dieſer Botſchaft knüpfte er,
gleichfalls auf allerhöchſten Befehl und im Namen der verbündeten Regierungen,
einige Worte des Dankes für die aufopfernde Thätigkeit und die patriotiſche Hin-
gebung des Reichstags, und erklärte dann ſofort die Sitzung für geſchloſſen. Dem
Alterspräſidenten v. Franckenberg-Ludwigsdorff, der ſich während dieſer kurzen
Rede zum Wort zur Geſchäftsordnung gemeldet hatte, um dem Präſidium den
üblichen nach den vorgefallenen Mißverſtändniſſen doppelt angebrachten Dank der
Verſammlung auszuſprechen, und auch dem Präſidenten ſelbſt, der ſich vorbehalten
mußte die hergebrachte ſtatiſtiſche Ueberſicht über die Summe der Arbeiten des
Reichstags durch den Druck zur Kenntniß desſelben zu bringen, wurde dadurch das
Wort abgeſchnitten. Es blieb dem Präſidenten nur übrig mit einem Hoch auf
Se. Maj. den Kaiſer auch ſeinerſeits die Sitzung zu ſchließen.

Die Ueberraſchung über dieſes unerwartete Ende der Seſſion war allgemein.
Die Worte: „Der Mohr hat ſeine Arbeit gethan, der Mohr kann gehen,“ waren
in aller Munde. Wenn dem Verfahren des Präſidenten des Reichskanzleramts
auch ſchwerlich eine verletzende Abſicht zu Grunde lag, ſo hatte derſelbe doch eine
bureaukratiſche Ungeſchicklichkeit begangen, die bei ſeiner großen Geſchäftserfahrung
und nach ſeinem ganzen ſonſtigen Verhalten nahezu unerklärlich bleibt. Wie die
erſte Seſſion des erſten Deutſchen Reichstags in Folge des noch immer der Aus-
führung harrenden Dotationsgeſetzes, ſo endete leider auch die zweite mit einem
Mißklang.

Außer einem aus dem Schooße der Verſammlung hervorgegangenen Antrage
blieben in Folge des plötzlichen Schluſſes des Reichstags 117 Petitionen unerledigt,
obgleich über die weitaus größere Hälfte derſelben die betreffenden Commiſſions-
berichte bereits vorlagen.

Die vorſtehenden Rückblicke, in welchen übrigens nur die Hauptmomente
berührt ſind, werden beweiſen daß der Reichstag in ſeiner letzten Seſſion in kürzerer
Zeit verhältnißmäßig viel mehr als in ſeiner langen erſten Sitzungsperiode geleiſtet
hat, und daß mehrere Fragen welche ihn beſchäftigten, ungleich größeres Intereſſe
boten als die im Frühjahr behandelten Gegenſtände. Dennoch hörte man häufig,
insbeſondere während der erſten Wochen, ſowohl in Abgeordneten-Kreiſen als im
Publicum, das die weiten Tribünen faſt immer bis auf den letzten Platz füllte,
darüber klagen daß der Deutſche Reichstag langweiliger und nachgiebiger ſei als
ſeine Vorgänger, der conſtituirende und der Norddeutſche Reichstag. Die Erklärung
für beides iſt leicht gefunden.

Solange es galt den Norddeutſchen Bund nicht nur zu begründen und aus-
zubauen, ſondern ihn zum Deutſchen Reiche zu erweitern, häuften ſich naturgemäß
die großen politiſchen Fragen. Dazu kam daß die Partei-Gegenſätze welche die
Ereigniſſe von 1866 hervorgerufen hatten, ungleich ſchroffer waren als dieß im
Deutſchen Reiche der Fall iſt, das ſeine Entſtehung dem von Nord- und Süddeutſch-
land gemeinſchaftlich geführten Kriege gegen einen auswärtigen Feind verdankt.
Nicht minder kommt in Betracht daß im Norddeutſchen Bund eine Reichstags-
ſeſſion im Jahre für die Erledigung der regelmäßigen Geſchäfte genügte, das Ar-
beitsmaterial damals im ganzen gleichmäßiger als jetzt über die ganze Sitzungs-
periode vertheilt, und das Fractionsweſen noch nicht, wie jetzt, in dem Maß ent-
wickelt war daß Windthorſt (Meppen) kürzlich, ohne ſtark zu übertreiben, ſagen
konnte: daß die öffentlichen Verhandlungen in den meiſten Fällen dadurch für die
Abſtienmung ihre Bedeutung verlören, wenn ſie auch Material für die Wiſſenſchaft
und für den andern Factor der Gefetzgebung abgäben. Es iſt leider wahr daß die
[Spaltenumbruch] meiſten Fractionen, völlig verſchieden von den Parteiverſammlungen des engliſchen
Parlaments und des amerikaniſchen Congreſſes, alle und jede für das Plenum be-
ſtimmten Gegenſtände faſt ebenſo gründlich durchberathen, und in ihren Kreiſen
ebenſo zur Abſtimmung bringen als wenn jede von ihnen allein in letzter Inſtanz
zu beſchließen hätte. Das mag für Einzelne ſehr belehrend ſein, aber es hat zur
Folge daß mancher dieſelben Reden zweimal hören muß, bei den öffentlichen Ver-
handlungen nur ausnahmsweiſe neue Argumente und Geſichtspunkte zum Vorſchein
kommen, und man ſelbſt auf den Tribünen bisweilen die Empfindung hat: es
werde nur ein vorher eingeübtes Schauſpiel aufgeführt. Der Redeluſt thut das
allerdings nur inſofern Eintrag als Einzelne ſich in jeder folgenden Seſſion ſeltener
als in der vorangegangenen hören laſſen. Von der kleinen Zahl die bei jeder Ge-
legenheit das Wort ergreifen zu müſſen glaubt, erinnert aber immer der eine oder
andere an die Worte Elihu’s, des Sohnes Baracheels (Hiob 32 V. 18): „Denn
ich bin der Rede ſo voll, daß mich der Odem in meinem Bauch ängſtet.“

Was die vermeintlich übergroße Nachgiebigkeit des Reichstags betrifft, ſo
hatte Bebel nicht ganz Unrecht als er bei der Generaldebatte über den Haushalts-
etat äußerte: „Eine wirklich oppoſitionelle Partei gegen die Regierung gibt es in
dieſem Hauſe überhaupt gar nicht; die geſammte liberale Partei ohne Ausnahme
geht in allen weſentlichen Fragen mit der Regierung Hand in Hand, und wo ſich
einmal irgend ein bißchen Oppoſition ſindet, hat die Regierung dieſe Oppoſition durch-
aus nicht zu fürchten.“ Daß eine ſyſtematiſche Oppoſition im Reichstag nicht vor-
handen iſt, darf man gewiß als ein Glück betrachten. Daß die Regierung, ſobald
ſie ihren Einfluß in die Wagſchale wirft, faſt bei allen Dingen auf eine Mehrheit
rechnen kann, iſt die natürliche Nachwirkung ihrer großen Erfolge im letzten Jahre,
ſo wie des Umſtandes daß die Reichstagswahlen unter dem Eindruck dieſer Erfolge
ſtattfanden. Ob es nicht im eigenen Intereſſe der Regierung wäre wenn ſie dann
und wann auf eine etwas ſtärkere Oppoſition ſtieße, iſt eine andere Fage. Wenn
man von dem ab und zu in der Fortſchrittspartei hervortretenden Doctrinarismus
abſieht, ſo beſteht der Hauptunterſchied zwiſchen den drei liberalen Parteien im
Grunde nur in Temperamentsverſchiedenheiten und hiſtoriſchen Reminiſcenzen,
doch ſcheint die liberale Reichspartei es nebenbei als ihre erfreuliche Aufgabe an-
zuſehen die Gegenſätze zu vermitteln. Nicht unmöglich iſt es übrigens daß ſchon
die nächſte Reichstagsſeſſion eine neue Parteibildung bringt, da die Verhandlungen
über das Militärgeſetz den in der ebenſo zahlreichen, wie an heterogenen Elementen
reichen nationalliberalen Partei ſchon längſt vorhandenen und ſchon oft auch dem
unbetheiligten Beobachter bemerkbaren Riß ſo vertieft haben, daß es mindeſtens
fraglich iſt ob das bei vielen ihrer Mitglieder herrſchende Gefühl der Unentbehr-
lichkeit einer ſolchen großen Partei, auch im Intereſſe des Reichs und Reichstages
ſelbſt, die Auflöſung desſelben verhindern wird, zumal da das Vertrauen in ein-
zelne ihrer Führer ſtark erſchüttert zu ſein ſcheint.

Als ich nach der Annahme des Büſing’ſchen Antrags über die Verfaſſungs-
frage gegen einen Abgeordneten meine Zweifel darüber äußerte ob die verbündeten
Regierungen denſelben zur Folge ziehen würden, ſtimmte er mir mit den Worten
bei: der Reichstag ſei für den Bundesrath im Grunde nur der Chor, welcher zu
dem Solo des Fürſten Bismarck das „Ja“ zu ſingen habe; er wälze den Stein
des Siſyphus in dieſer wie in manchen andern Fragen; aber der Reichstag ſei bei
alledem, auch wenn er jetzt zu ſchlafen ſcheine, ein Rieſe, der, wenn einmal im Laufe
der Zeit ein Umſchlag eintrete, Neuwahlen ſeine Compoſition änderten, und er erwache,
einen ganz anders intereſſanten, ja zugleich einen gefährlichen Charakter annehmen
könnte, während der Bundesrath, wenn er dem ſchon wieder auftauchenden Stre-
ben nach Unitarismus nicht rechtzeitig Widerſtand entgegenſetze, Gefahr laufe mit
der Zeit in das Reichskanzleramt aufzugehen. — Mir ſind dieſe Worte wie ein
Symptom einer ziemlich weit verbreiteten Mißſtimmung erſchienen. Gewiß iſt
daß die Rückſichtsloſigkeit welche die Bundesregierung während der letzten Sitzungs-
periode wiederholt gegen den Reichstag bewieſen hat, vielen Mitgliedern desſelben
die Freudigkeit benahm, mit der ſie im Frühjahr zur erſten Seſſion erſchie-
nen, und daß einzelne von ihnen, die zugleich Mitglieder von Landtagen eines
Einzelſtaats ſind, ſogar den Verhandlungen dieſer jetzt wieder größere Theilnahme
zuwenden, weil ſie dadurch näher berührt werden, die Reſultate ihrer Arbeiten in
den Landtagen ihnen ſichtbarer und unmittelbarer als im Reichstage vor Augen
treten, und ſie immer darauf rechnen können daß die heimiſche Regierung ihren
Wünſchen mehr entgegenkommt. Das ſollte nicht ſo ſein, und ich habe es deßhalb
für richtig gehalten dieſe unerfreuliche Erſcheinung zu ſignaliſiren, denn noch iſt
das Uebel gering und die Abhülfe leicht.



Aus Rußland.

Während Sie heute draußen im jungen
Deutſchen Reiche das erſte Weihnachtsfeſt feiern, ſchreibe ich Ihnen hier meine
Epiſtel unter dem Druck des Alltaglebens. Denn kann man auch hier den kür-
zeſten Tag, der um 10 Uhr beginnt, und ſchon zwiſchen 2 und 3 Uhr endigt, nicht
um 14 Tage hinausſchieben, und haben wir auch hier das ſchönſte Weihnachts-
wetter, Schnee und Eis, wie es ſein muß, ſo zwingt uns der Kalendermann doch
heute erſt den 13 December zu ſchreiben, und auch die hieſigen Deutſchen feiern das
Chriſtfeſt erſt in 12 Tagen zuſammen mit den Ruſſen. Nur ein einziger mächtiger
Weihnachtsbaum brannte geſtern auf der Newa-Inſel Petrowski, die halb noch
zur Stadt, halb ſchon zu den Umgebungen St. Petersburgs gehört, und Hunderte
von Schlitten führten deutſchredende Bewohner hinaus um das heil. Chriſtfeſt juſt
an demſelben Tage zu feiern wie im lieben deutſchen Vaterlande. Hr. Süß, der
Reſtaurationspächter der Actienbrauerei „Bavaria,“ hatte den Baum ſeinen
Landsleuten angezündet, milden Zwecken des Wohlthuns dienend. Sein Local,
deſſen ſchattiger von prächtigen Eichen geſchmückter Garten an der gondelreichen
Newa im Sommer die Zuflucht der hieſigen Deutſchen iſt, war um des milden
Zweckes willen auch mitten im Winter bis unter das Dach gefüllt, und ein halbes
Taufend Rubel bildete den Ertrag, der nach Abzug der Unkoſten dem Wohl-
thätigkeitsvereine zugefloſſen iſt.

Die hieſige Preſſe zehrt noch immer von der Anweſenheit des Prinzen
Friedrich Karl und der deutſchen Generale. Am bemerkenswertheſten in dieſer

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[42/0002] abermals einen Schlag ins Waſſer gethan hat, aber es iſt doch nicht unmöglich daß derſelbe auf die Regierungen der beiden zunächſt betheiligten Staaten einen ge- wiſſen moraliſchen Eindruck übt. Das auf Grund des in der Frühjahrsſeſſion gefaßten Beſchluſſes über den Antrag Wiggers-Völk (vgl. Nr. 194 d. „Allg. Ztg.“) erwartete neue Preßgeſetz iſt dem Reichstag dießmal noch nicht vorgelegt, aber für die nächſte Sitzungsperiode angekündigt worden. Ebenſowenig iſt der im Frühjahr unerledigt gebliebene Antrag Schulze auf Erlaß eines Geſetzes betreffend die privatrechtliche Stellung von Ver- einen zur Verhandlung gekommen. Der Antragſteller glaubte die Sache nicht wieder in Anregung bringen zu dürfen, weil auch er beim Beginn der Sitzungen die allgemeine Anſicht theilte daß der Reichstag nur wenige Wochen verſammelt bleiben wird. Am Freitag den 1 Dec. ſtanden die Schlußberathungen über das Militär- geſetz und den Reichshaushalts-Etat, ſowie zahlreiche Petitionsberichte, auf der Tagesordnung. Die übrigen Regierungsvorlagen waren ſämmtlich bereits er- ledigt, und man gab ſich der Hoffnung hin daß der Reichstag am folgenden Tage werde geſchloſſen werden, obgleich der Präſident noch beim Beginn der Sitzung gegen einzelne Abgeordnete Zweifel darüber geäußert hatte ob es auch nur möglich ſein werde bis zum nächſten Montag alle Rückſtände zur Erledigung zu bringen. Bald nach 5 Uhr kam es zur Schlußabſtimmung über das Haushalts-Etatgeſetz, das „mit ſehr großer Mehrheit“ angenommen wurde. Außer Ewald, Kryger (Haders- leben) und den Polen, die noch in letzter Stunde ihr abſtimmiges Votum motivirt hatten, blieben nur ein paar Mitglieder des Centrums, ſowie Dr. Wigard und ein oder zwei andere Mitglieder der Fortſchrittspartei bei der Abſtimmung ſitzen. Ich möchte glauben daß die letztern Herren dieß nur deßhalb thaten, um nochmals ihre Unzufriedenheit mit dem kurz vorher definitiv angenommenen Militärgeſetz zu manifeſtiren, und weil ſie wußten daß ſie doch in der Minderheit bleiben würden. Sie ſcheinen ſich nicht klar gemacht zu haben daß man niemals gegen ein Geſetz ſtimmen ſollte deſſen Verwerfung man ſelbſt beklagen würde. Das Haus hatte kaum den letzten Thaler bewilligt, und ſich noch nicht ein- mal darüber ausgeſprochen ob es, ungeachtet der vorgerückten Stunde, in der Be- rathung der Tagesordnung fortfahren wolle, als der Präſident des Reichskanzler- amtes das Wort verlangte. 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Die vorſtehenden Rückblicke, in welchen übrigens nur die Hauptmomente berührt ſind, werden beweiſen daß der Reichstag in ſeiner letzten Seſſion in kürzerer Zeit verhältnißmäßig viel mehr als in ſeiner langen erſten Sitzungsperiode geleiſtet hat, und daß mehrere Fragen welche ihn beſchäftigten, ungleich größeres Intereſſe boten als die im Frühjahr behandelten Gegenſtände. Dennoch hörte man häufig, insbeſondere während der erſten Wochen, ſowohl in Abgeordneten-Kreiſen als im Publicum, das die weiten Tribünen faſt immer bis auf den letzten Platz füllte, darüber klagen daß der Deutſche Reichstag langweiliger und nachgiebiger ſei als ſeine Vorgänger, der conſtituirende und der Norddeutſche Reichstag. Die Erklärung für beides iſt leicht gefunden. Solange es galt den Norddeutſchen Bund nicht nur zu begründen und aus- zubauen, ſondern ihn zum Deutſchen Reiche zu erweitern, häuften ſich naturgemäß die großen politiſchen Fragen. Dazu kam daß die Partei-Gegenſätze welche die Ereigniſſe von 1866 hervorgerufen hatten, ungleich ſchroffer waren als dieß im Deutſchen Reiche der Fall iſt, das ſeine Entſtehung dem von Nord- und Süddeutſch- land gemeinſchaftlich geführten Kriege gegen einen auswärtigen Feind verdankt. Nicht minder kommt in Betracht daß im Norddeutſchen Bund eine Reichstags- ſeſſion im Jahre für die Erledigung der regelmäßigen Geſchäfte genügte, das Ar- beitsmaterial damals im ganzen gleichmäßiger als jetzt über die ganze Sitzungs- periode vertheilt, und das Fractionsweſen noch nicht, wie jetzt, in dem Maß ent- wickelt war daß Windthorſt (Meppen) kürzlich, ohne ſtark zu übertreiben, ſagen konnte: daß die öffentlichen Verhandlungen in den meiſten Fällen dadurch für die Abſtienmung ihre Bedeutung verlören, wenn ſie auch Material für die Wiſſenſchaft und für den andern Factor der Gefetzgebung abgäben. Es iſt leider wahr daß die meiſten Fractionen, völlig verſchieden von den Parteiverſammlungen des engliſchen Parlaments und des amerikaniſchen Congreſſes, alle und jede für das Plenum be- ſtimmten Gegenſtände faſt ebenſo gründlich durchberathen, und in ihren Kreiſen ebenſo zur Abſtimmung bringen als wenn jede von ihnen allein in letzter Inſtanz zu beſchließen hätte. Das mag für Einzelne ſehr belehrend ſein, aber es hat zur Folge daß mancher dieſelben Reden zweimal hören muß, bei den öffentlichen Ver- handlungen nur ausnahmsweiſe neue Argumente und Geſichtspunkte zum Vorſchein kommen, und man ſelbſt auf den Tribünen bisweilen die Empfindung hat: es werde nur ein vorher eingeübtes Schauſpiel aufgeführt. Der Redeluſt thut das allerdings nur inſofern Eintrag als Einzelne ſich in jeder folgenden Seſſion ſeltener als in der vorangegangenen hören laſſen. Von der kleinen Zahl die bei jeder Ge- legenheit das Wort ergreifen zu müſſen glaubt, erinnert aber immer der eine oder andere an die Worte Elihu’s, des Sohnes Baracheels (Hiob 32 V. 18): „Denn ich bin der Rede ſo voll, daß mich der Odem in meinem Bauch ängſtet.“ Was die vermeintlich übergroße Nachgiebigkeit des Reichstags betrifft, ſo hatte Bebel nicht ganz Unrecht als er bei der Generaldebatte über den Haushalts- etat äußerte: „Eine wirklich oppoſitionelle Partei gegen die Regierung gibt es in dieſem Hauſe überhaupt gar nicht; die geſammte liberale Partei ohne Ausnahme geht in allen weſentlichen Fragen mit der Regierung Hand in Hand, und wo ſich einmal irgend ein bißchen Oppoſition ſindet, hat die Regierung dieſe Oppoſition durch- aus nicht zu fürchten.“ Daß eine ſyſtematiſche Oppoſition im Reichstag nicht vor- handen iſt, darf man gewiß als ein Glück betrachten. Daß die Regierung, ſobald ſie ihren Einfluß in die Wagſchale wirft, faſt bei allen Dingen auf eine Mehrheit rechnen kann, iſt die natürliche Nachwirkung ihrer großen Erfolge im letzten Jahre, ſo wie des Umſtandes daß die Reichstagswahlen unter dem Eindruck dieſer Erfolge ſtattfanden. Ob es nicht im eigenen Intereſſe der Regierung wäre wenn ſie dann und wann auf eine etwas ſtärkere Oppoſition ſtieße, iſt eine andere Fage. Wenn man von dem ab und zu in der Fortſchrittspartei hervortretenden Doctrinarismus abſieht, ſo beſteht der Hauptunterſchied zwiſchen den drei liberalen Parteien im Grunde nur in Temperamentsverſchiedenheiten und hiſtoriſchen Reminiſcenzen, doch ſcheint die liberale Reichspartei es nebenbei als ihre erfreuliche Aufgabe an- zuſehen die Gegenſätze zu vermitteln. Nicht unmöglich iſt es übrigens daß ſchon die nächſte Reichstagsſeſſion eine neue Parteibildung bringt, da die Verhandlungen über das Militärgeſetz den in der ebenſo zahlreichen, wie an heterogenen Elementen reichen nationalliberalen Partei ſchon längſt vorhandenen und ſchon oft auch dem unbetheiligten Beobachter bemerkbaren Riß ſo vertieft haben, daß es mindeſtens fraglich iſt ob das bei vielen ihrer Mitglieder herrſchende Gefühl der Unentbehr- lichkeit einer ſolchen großen Partei, auch im Intereſſe des Reichs und Reichstages ſelbſt, die Auflöſung desſelben verhindern wird, zumal da das Vertrauen in ein- zelne ihrer Führer ſtark erſchüttert zu ſein ſcheint. Als ich nach der Annahme des Büſing’ſchen Antrags über die Verfaſſungs- frage gegen einen Abgeordneten meine Zweifel darüber äußerte ob die verbündeten Regierungen denſelben zur Folge ziehen würden, ſtimmte er mir mit den Worten bei: der Reichstag ſei für den Bundesrath im Grunde nur der Chor, welcher zu dem Solo des Fürſten Bismarck das „Ja“ zu ſingen habe; er wälze den Stein des Siſyphus in dieſer wie in manchen andern Fragen; aber der Reichstag ſei bei alledem, auch wenn er jetzt zu ſchlafen ſcheine, ein Rieſe, der, wenn einmal im Laufe der Zeit ein Umſchlag eintrete, Neuwahlen ſeine Compoſition änderten, und er erwache, einen ganz anders intereſſanten, ja zugleich einen gefährlichen Charakter annehmen könnte, während der Bundesrath, wenn er dem ſchon wieder auftauchenden Stre- ben nach Unitarismus nicht rechtzeitig Widerſtand entgegenſetze, Gefahr laufe mit der Zeit in das Reichskanzleramt aufzugehen. — Mir ſind dieſe Worte wie ein Symptom einer ziemlich weit verbreiteten Mißſtimmung erſchienen. Gewiß iſt daß die Rückſichtsloſigkeit welche die Bundesregierung während der letzten Sitzungs- periode wiederholt gegen den Reichstag bewieſen hat, vielen Mitgliedern desſelben die Freudigkeit benahm, mit der ſie im Frühjahr zur erſten Seſſion erſchie- nen, und daß einzelne von ihnen, die zugleich Mitglieder von Landtagen eines Einzelſtaats ſind, ſogar den Verhandlungen dieſer jetzt wieder größere Theilnahme zuwenden, weil ſie dadurch näher berührt werden, die Reſultate ihrer Arbeiten in den Landtagen ihnen ſichtbarer und unmittelbarer als im Reichstage vor Augen treten, und ſie immer darauf rechnen können daß die heimiſche Regierung ihren Wünſchen mehr entgegenkommt. Das ſollte nicht ſo ſein, und ich habe es deßhalb für richtig gehalten dieſe unerfreuliche Erſcheinung zu ſignaliſiren, denn noch iſt das Uebel gering und die Abhülfe leicht. Aus Rußland. ×× St. Petersburg, 25 Dec.Während Sie heute draußen im jungen Deutſchen Reiche das erſte Weihnachtsfeſt feiern, ſchreibe ich Ihnen hier meine Epiſtel unter dem Druck des Alltaglebens. Denn kann man auch hier den kür- zeſten Tag, der um 10 Uhr beginnt, und ſchon zwiſchen 2 und 3 Uhr endigt, nicht um 14 Tage hinausſchieben, und haben wir auch hier das ſchönſte Weihnachts- wetter, Schnee und Eis, wie es ſein muß, ſo zwingt uns der Kalendermann doch heute erſt den 13 December zu ſchreiben, und auch die hieſigen Deutſchen feiern das Chriſtfeſt erſt in 12 Tagen zuſammen mit den Ruſſen. Nur ein einziger mächtiger Weihnachtsbaum brannte geſtern auf der Newa-Inſel Petrowski, die halb noch zur Stadt, halb ſchon zu den Umgebungen St. Petersburgs gehört, und Hunderte von Schlitten führten deutſchredende Bewohner hinaus um das heil. Chriſtfeſt juſt an demſelben Tage zu feiern wie im lieben deutſchen Vaterlande. Hr. Süß, der Reſtaurationspächter der Actienbrauerei „Bavaria,“ hatte den Baum ſeinen Landsleuten angezündet, milden Zwecken des Wohlthuns dienend. Sein Local, deſſen ſchattiger von prächtigen Eichen geſchmückter Garten an der gondelreichen Newa im Sommer die Zuflucht der hieſigen Deutſchen iſt, war um des milden Zweckes willen auch mitten im Winter bis unter das Dach gefüllt, und ein halbes Taufend Rubel bildete den Ertrag, der nach Abzug der Unkoſten dem Wohl- thätigkeitsvereine zugefloſſen iſt. Die hieſige Preſſe zehrt noch immer von der Anweſenheit des Prinzen Friedrich Karl und der deutſchen Generale. Am bemerkenswertheſten in dieſer

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-02-11T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 4. Januar 1872, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine04_1872/2>, abgerufen am 23.11.2024.