Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite

Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen
mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber
Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit
Stolz.

Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen,
-- wer mit Adlers-Krallen den Abgrund fasst: Der
hat Muth. -- --


5.

"Der Mensch ist böse" -- so sprachen mir zum
Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch
wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft.

"Der Mensch muss besser und böser werden" --
so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Über¬
menschen Bestem.

Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen
Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde.
Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines
grossen Trostes. --

Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt.
Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das
sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-
Klauen greifen!


6.

Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu
machen, was ihr schlecht machtet?

Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer
betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten
neue leichtere Fusssteige zeigen?

Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen
mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber
Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit
Stolz.

Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen,
— wer mit Adlers-Krallen den Abgrund fasst: Der
hat Muth. — —


5.

„Der Mensch ist böse“ — so sprachen mir zum
Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch
wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft.

„Der Mensch muss besser und böser werden“ —
so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Über¬
menschen Bestem.

Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen
Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde.
Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines
grossen Trostes. —

Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt.
Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das
sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-
Klauen greifen!


6.

Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu
machen, was ihr schlecht machtet?

Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer
betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten
neue leichtere Fusssteige zeigen?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0086" n="79"/>
          <p>Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen<lb/>
mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber<lb/>
Furcht <hi rendition="#g">zwingt</hi>; wer den Abgrund sieht, aber mit<lb/><hi rendition="#g">Stolz</hi>.</p><lb/>
          <p>Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen,<lb/>
&#x2014; wer mit Adlers-Krallen den Abgrund <hi rendition="#g">fasst</hi>: Der<lb/>
hat Muth. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>5.<lb/></head>
          <p>&#x201E;Der Mensch ist böse&#x201C; &#x2014; so sprachen mir zum<lb/>
Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch<lb/>
wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der Mensch muss besser und böser werden&#x201C; &#x2014;<lb/>
so lehre <hi rendition="#g">ich</hi>. Das Böseste ist nöthig zu des Über¬<lb/>
menschen Bestem.</p><lb/>
          <p>Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen<lb/>
Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde.<lb/>
Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines<lb/>
grossen <hi rendition="#g">Trostes</hi>. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt.<lb/>
Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das<lb/>
sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-<lb/>
Klauen greifen!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>6.<lb/></head>
          <p>Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu<lb/>
machen, was ihr schlecht machtet?</p><lb/>
          <p>Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer<lb/>
betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten<lb/>
neue leichtere Fusssteige zeigen?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0086] Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit Stolz. Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, — wer mit Adlers-Krallen den Abgrund fasst: Der hat Muth. — — 5. „Der Mensch ist böse“ — so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. „Der Mensch muss besser und böser werden“ — so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Über¬ menschen Bestem. Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines grossen Trostes. — Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs- Klauen greifen! 6. Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht machtet? Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fusssteige zeigen?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/86
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/86>, abgerufen am 23.11.2024.