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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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Diese letztern besonders, von der ganzen Na-
tion (bis auf einen oder zwey Pedanten, einen
Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht
wußten, was sie wollten,) als Orakelsprüche
angenommen, von allen nachherigen Dichtern
befolgt: haben, -- ich getraue mich, es Stück
vor Stück zu beweisen, -- nichts anders, als
das kahlste, wäßrigste, untragischste Zeug her-
vorbringen können.

Die Regeln des Aristoteles, sind alle auf die
höchste Wirkung der Tragödie calculirt. Was
macht aber Corneille damit? Er trägt sie falsch
und schielend genug vor; und weil er sie doch
noch viel zu strenge findet: so sucht er, bey einer
nach der andern, quelque moderation, quel-
que favorable interpretation;
entkräftet
und verstümmelt, deutelt und vereitelt eine
jede, -- und warum? pour n'etre pas obli-
ges de condamner beaucoup de poemes
que nous avons vau reussir sur nos thea-
tres;
um nicht viele Gedichte verwerfen zu dür-
fen, die auf unsern Bühnen Beyfall gefunden.
Eine schöne Ursache!

Jch will die Hauptpunkte geschwind berüh-
ren. Einige davon habe ich schon berührt; ich
muß sie aber, des Zusammenhanges wegen,
wiederum mitnehmen.

1. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mit-
leid und Furcht erregen. -- Corneille sagt: o ja,

aber

Dieſe letztern beſonders, von der ganzen Na-
tion (bis auf einen oder zwey Pedanten, einen
Hedelin, einen Dacier, die aber oft ſelbſt nicht
wußten, was ſie wollten,) als Orakelſprüche
angenommen, von allen nachherigen Dichtern
befolgt: haben, — ich getraue mich, es Stück
vor Stück zu beweiſen, — nichts anders, als
das kahlſte, wäßrigſte, untragiſchſte Zeug her-
vorbringen können.

Die Regeln des Ariſtoteles, ſind alle auf die
höchſte Wirkung der Tragödie calculirt. Was
macht aber Corneille damit? Er trägt ſie falſch
und ſchielend genug vor; und weil er ſie doch
noch viel zu ſtrenge findet: ſo ſucht er, bey einer
nach der andern, quelque moderation, quel-
que favorable interpretation;
entkräftet
und verſtümmelt, deutelt und vereitelt eine
jede, — und warum? pour n’etre pas obli-
gés de condamner beaucoup de poemes
que nous avons vû réuſſir ſur nos thea-
tres;
um nicht viele Gedichte verwerfen zu dür-
fen, die auf unſern Bühnen Beyfall gefunden.
Eine ſchöne Urſache!

Jch will die Hauptpunkte geſchwind berüh-
ren. Einige davon habe ich ſchon berührt; ich
muß ſie aber, des Zuſammenhanges wegen,
wiederum mitnehmen.

1. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit-
leid und Furcht erregen. — Corneille ſagt: o ja,

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[228/0234] Dieſe letztern beſonders, von der ganzen Na- tion (bis auf einen oder zwey Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft ſelbſt nicht wußten, was ſie wollten,) als Orakelſprüche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben, — ich getraue mich, es Stück vor Stück zu beweiſen, — nichts anders, als das kahlſte, wäßrigſte, untragiſchſte Zeug her- vorbringen können. Die Regeln des Ariſtoteles, ſind alle auf die höchſte Wirkung der Tragödie calculirt. Was macht aber Corneille damit? Er trägt ſie falſch und ſchielend genug vor; und weil er ſie doch noch viel zu ſtrenge findet: ſo ſucht er, bey einer nach der andern, quelque moderation, quel- que favorable interpretation; entkräftet und verſtümmelt, deutelt und vereitelt eine jede, — und warum? pour n’etre pas obli- gés de condamner beaucoup de poemes que nous avons vû réuſſir ſur nos thea- tres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu dür- fen, die auf unſern Bühnen Beyfall gefunden. Eine ſchöne Urſache! Jch will die Hauptpunkte geſchwind berüh- ren. Einige davon habe ich ſchon berührt; ich muß ſie aber, des Zuſammenhanges wegen, wiederum mitnehmen. 1. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit- leid und Furcht erregen. — Corneille ſagt: o ja, aber

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/234>, abgerufen am 25.04.2024.