Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

seltnen Sieg über einen Großtürken erhalten
können.

Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-
zehlung des Marmontel sagen soll; nicht, daß
sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen
den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer
Eitelkeit und ihres Lächerlichen, ausgeführet,
und mit der Eleganz und Anmuth geschrieben
wäre, welche diesem Verfasser so eigen sind;
von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst.
Aber es soll eine moralische Erzehlung seyn, und
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische
sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so
anstößig, als eine Erzehlung des La Fontaine
oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch,
weil sie nicht ganz unmoralisch ist?

Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-
lüste gähnet, dem sie der alltägliche und durch
nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und eckel
gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch
etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder
gespannet und gereitzet wissen will, um den sich
die feinste Sinnlichkeit, die raffinirteste Zärt-
lichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft:
dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in
der Erzehlung. Ich sage, der leidende: der
Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Ma-
gen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken;
bis er endlich auf etwas verfällt, was jedem ge-

sun-

ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten
koͤnnen.

Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-
zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß
ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen
den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer
Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret,
und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben
waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind;
von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt.
Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche
ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo
anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine
oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch,
weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt?

Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-
luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch
nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel
gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch
etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder
geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich
die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt-
lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft:
dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in
der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der
Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma-
gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken;
bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge-

ſun-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0272" n="258"/>
&#x017F;eltnen Sieg u&#x0364;ber einen Großtu&#x0364;rken erhalten<lb/>
ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er-<lb/>
zehlung des Marmontel &#x017F;agen &#x017F;oll; nicht, daß<lb/>
&#x017F;ie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen<lb/>
den feinen Kenntni&#x017F;&#x017F;en der großen Welt, ihrer<lb/>
Eitelkeit und ihres La&#x0364;cherlichen, ausgefu&#x0364;hret,<lb/>
und mit der Eleganz und Anmuth ge&#x017F;chrieben<lb/>
wa&#x0364;re, welche die&#x017F;em Verfa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;o eigen &#x017F;ind;<lb/>
von die&#x017F;er Seite i&#x017F;t &#x017F;ie vortrefflich, allerlieb&#x017F;t.<lb/>
Aber es &#x017F;oll eine morali&#x017F;che Erzehlung &#x017F;eyn, und<lb/>
ich kann nur nicht finden, wo ihr das Morali&#x017F;che<lb/>
&#x017F;itzt. Allerdings i&#x017F;t &#x017F;ie nicht &#x017F;o &#x017F;chlu&#x0364;pfrig, &#x017F;o<lb/>
an&#x017F;to&#x0364;ßig, als eine Erzehlung des La Fontaine<lb/>
oder Grecourt: aber i&#x017F;t &#x017F;ie darum morali&#x017F;ch,<lb/>
weil &#x017F;ie nicht ganz unmorali&#x017F;ch i&#x017F;t?</p><lb/>
        <p>Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol-<lb/>
lu&#x0364;&#x017F;te ga&#x0364;hnet, dem &#x017F;ie der allta&#x0364;gliche und durch<lb/>
nichts er&#x017F;chwerte Genuß un&#x017F;chmackhaft und eckel<lb/>
gemacht hat, der &#x017F;eine &#x017F;chlaffen Nerven durch<lb/>
etwas ganz Neues, ganz Be&#x017F;onderes, wieder<lb/>
ge&#x017F;pannet und gereitzet wi&#x017F;&#x017F;en will, um den &#x017F;ich<lb/>
die fein&#x017F;te Sinnlichkeit, die raffinirte&#x017F;te Za&#x0364;rt-<lb/>
lichkeit um&#x017F;on&#x017F;t bewirbt, vergebens er&#x017F;cho&#x0364;pft:<lb/>
die&#x017F;er kranke Wollu&#x0364;&#x017F;tling i&#x017F;t der leidende Held in<lb/>
der Erzehlung. Ich &#x017F;age, der leidende: der<lb/>
Lecker hat &#x017F;ich mit zu viel Su&#x0364;ßigkeiten den Ma-<lb/>
gen verdorben; nichts will ihm mehr &#x017F;chmecken;<lb/>
bis er endlich auf etwas verfa&#x0364;llt, was jedem ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;un-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[258/0272] ſeltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten koͤnnen. Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er- zehlung des Marmontel ſagen ſoll; nicht, daß ſie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntniſſen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret, und mit der Eleganz und Anmuth geſchrieben waͤre, welche dieſem Verfaſſer ſo eigen ſind; von dieſer Seite iſt ſie vortrefflich, allerliebſt. Aber es ſoll eine moraliſche Erzehlung ſeyn, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moraliſche ſitzt. Allerdings iſt ſie nicht ſo ſchluͤpfrig, ſo anſtoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber iſt ſie darum moraliſch, weil ſie nicht ganz unmoraliſch iſt? Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol- luͤſte gaͤhnet, dem ſie der alltaͤgliche und durch nichts erſchwerte Genuß unſchmackhaft und eckel gemacht hat, der ſeine ſchlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Beſonderes, wieder geſpannet und gereitzet wiſſen will, um den ſich die feinſte Sinnlichkeit, die raffinirteſte Zaͤrt- lichkeit umſonſt bewirbt, vergebens erſchoͤpft: dieſer kranke Wolluͤſtling iſt der leidende Held in der Erzehlung. Ich ſage, der leidende: der Lecker hat ſich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma- gen verdorben; nichts will ihm mehr ſchmecken; bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge- ſun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/272
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/272>, abgerufen am 23.11.2024.