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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
FF.
Anson.

Ein vermuthlich sehr ähnliches und sehr unähnliches Porträt dieses Mannes! Eins von denen
Gesichtern, die man immer kenntlich, nie ähnlich zeichnet. Auch diese Copey ist unter dem
Originale, besonders die spätern retouchirten Abdrücke. Jmmer aber ist auch noch die unvoll-
kommenste Copey hinreichend, uns einen großen Mann zu zeigen.

Sein Blick ist immer Adlersblick des Forschers, und wenn uns nichts übrig bliebe,
als seine Augbraunen über einem solchen Auge; -- so würde mir immer sein großer, edler, for-
schender, männlicher Verstand unzweifelhaft seyn.

Jn den beyden erbärmlichen Carrikaturumrissen dieses herrlichen Gesichtes war doch der
Verstand nicht zu vertilgen.

Man kann die Stirne rümpfen, daß man einem Dummkopf ähnlich sieht, aber die
Knochen bleiben immer eben dieselben. Man kann ein Gesicht erbärmlich verunstalten, so lange
man aber nur noch etwas vom Umrisse der Stirne, der Augenbraunen und des Auges übrig läßt,
wird immer noch Character übrig bleiben.

Die Stirne in allen drey Porträten, besonders im Umriß 1. wirst du schwerlich jemals
bey einem natürlichen Dummkopf antreffen.

Aber kann ein Mann mit diesem Auge, diesen Augbraunen, dieser Stirne nicht ein Narr
werden? und was wird dann deine Physiognomik dazu sagen?

Wenn er ein Narr wird, und das kann der weiseste werden -- so wird der Umriß seiner
Stirne ganz, seiner Augenbraunen, seiner Augen vielleicht größtentheils bleiben; aber das Feuer,
der Blick, die Schnellkraft seiner Augen wird nachlassen; -- seine Lippen werden schief werden,
der Mund sich nicht mehr fest schließen -- die Elasticität der Muskeln wird nachlassen. Das
Feste wird bleiben, das Weiche wird sich nach Maaße der Schwachheit ändern, dann wird
der weise Physiognomist sagen: "die treffliche Anlage hat ein Zufall zerrüttet." Doch davon
einmal ein besonderes Fragment -- und eine Jnduction zur Beylage!

Du
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
FF.
Anſon.

Ein vermuthlich ſehr aͤhnliches und ſehr unaͤhnliches Portraͤt dieſes Mannes! Eins von denen
Geſichtern, die man immer kenntlich, nie aͤhnlich zeichnet. Auch dieſe Copey iſt unter dem
Originale, beſonders die ſpaͤtern retouchirten Abdruͤcke. Jmmer aber iſt auch noch die unvoll-
kommenſte Copey hinreichend, uns einen großen Mann zu zeigen.

Sein Blick iſt immer Adlersblick des Forſchers, und wenn uns nichts uͤbrig bliebe,
als ſeine Augbraunen uͤber einem ſolchen Auge; — ſo wuͤrde mir immer ſein großer, edler, for-
ſchender, maͤnnlicher Verſtand unzweifelhaft ſeyn.

Jn den beyden erbaͤrmlichen Carrikaturumriſſen dieſes herrlichen Geſichtes war doch der
Verſtand nicht zu vertilgen.

Man kann die Stirne ruͤmpfen, daß man einem Dummkopf aͤhnlich ſieht, aber die
Knochen bleiben immer eben dieſelben. Man kann ein Geſicht erbaͤrmlich verunſtalten, ſo lange
man aber nur noch etwas vom Umriſſe der Stirne, der Augenbraunen und des Auges uͤbrig laͤßt,
wird immer noch Character uͤbrig bleiben.

Die Stirne in allen drey Portraͤten, beſonders im Umriß 1. wirſt du ſchwerlich jemals
bey einem natuͤrlichen Dummkopf antreffen.

Aber kann ein Mann mit dieſem Auge, dieſen Augbraunen, dieſer Stirne nicht ein Narr
werden? und was wird dann deine Phyſiognomik dazu ſagen?

Wenn er ein Narr wird, und das kann der weiſeſte werden — ſo wird der Umriß ſeiner
Stirne ganz, ſeiner Augenbraunen, ſeiner Augen vielleicht groͤßtentheils bleiben; aber das Feuer,
der Blick, die Schnellkraft ſeiner Augen wird nachlaſſen; — ſeine Lippen werden ſchief werden,
der Mund ſich nicht mehr feſt ſchließen — die Elaſticitaͤt der Muskeln wird nachlaſſen. Das
Feſte wird bleiben, das Weiche wird ſich nach Maaße der Schwachheit aͤndern, dann wird
der weiſe Phyſiognomiſt ſagen: „die treffliche Anlage hat ein Zufall zerruͤttet.“ Doch davon
einmal ein beſonderes Fragment — und eine Jnduction zur Beylage!

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[247/0379] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. FF. Anſon. Ein vermuthlich ſehr aͤhnliches und ſehr unaͤhnliches Portraͤt dieſes Mannes! Eins von denen Geſichtern, die man immer kenntlich, nie aͤhnlich zeichnet. Auch dieſe Copey iſt unter dem Originale, beſonders die ſpaͤtern retouchirten Abdruͤcke. Jmmer aber iſt auch noch die unvoll- kommenſte Copey hinreichend, uns einen großen Mann zu zeigen. Sein Blick iſt immer Adlersblick des Forſchers, und wenn uns nichts uͤbrig bliebe, als ſeine Augbraunen uͤber einem ſolchen Auge; — ſo wuͤrde mir immer ſein großer, edler, for- ſchender, maͤnnlicher Verſtand unzweifelhaft ſeyn. Jn den beyden erbaͤrmlichen Carrikaturumriſſen dieſes herrlichen Geſichtes war doch der Verſtand nicht zu vertilgen. Man kann die Stirne ruͤmpfen, daß man einem Dummkopf aͤhnlich ſieht, aber die Knochen bleiben immer eben dieſelben. Man kann ein Geſicht erbaͤrmlich verunſtalten, ſo lange man aber nur noch etwas vom Umriſſe der Stirne, der Augenbraunen und des Auges uͤbrig laͤßt, wird immer noch Character uͤbrig bleiben. Die Stirne in allen drey Portraͤten, beſonders im Umriß 1. wirſt du ſchwerlich jemals bey einem natuͤrlichen Dummkopf antreffen. Aber kann ein Mann mit dieſem Auge, dieſen Augbraunen, dieſer Stirne nicht ein Narr werden? und was wird dann deine Phyſiognomik dazu ſagen? Wenn er ein Narr wird, und das kann der weiſeſte werden — ſo wird der Umriß ſeiner Stirne ganz, ſeiner Augenbraunen, ſeiner Augen vielleicht groͤßtentheils bleiben; aber das Feuer, der Blick, die Schnellkraft ſeiner Augen wird nachlaſſen; — ſeine Lippen werden ſchief werden, der Mund ſich nicht mehr feſt ſchließen — die Elaſticitaͤt der Muskeln wird nachlaſſen. Das Feſte wird bleiben, das Weiche wird ſich nach Maaße der Schwachheit aͤndern, dann wird der weiſe Phyſiognomiſt ſagen: „die treffliche Anlage hat ein Zufall zerruͤttet.“ Doch davon einmal ein beſonderes Fragment — und eine Jnduction zur Beylage! Du

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/379>, abgerufen am 29.11.2024.