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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
Und was würde aus Homer, wenn er sich nach je-
dem Kunstrichter hätte richten wollen?

Nein! mein Homer soll sich nicht nach mei-
nem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des seini-
gen mögen so weit abgehen, als sie wollen. Jch bin
zu bescheiden, ihn summam vim & mensuram in-
genii humani
zu nennen a): denn wer bin ich, daß
ich die gesammten Kräfte der Natur wägen, und
das Maaß erfassen wollte, das die Mensur des
menschlichen Geistes enthält? Wer bin ich, daß ich
die Linie ziehen könnte: so hoch reicht Homer, und
so hoch kann der menschliche Geist reichen! So sehr
ich ihn, als die edle Erstgeburt der schönen dichteri-
schen Natur in Griechenland, liebe; so gern ich
ihn, als den Vater aller griechischen Dichter, vereh-
re: so blöde bin ich, ihn, als den Umfang, als das
Maaß des menschlichen Geistes, zu betrachten: so
blöde, es abwägen zu wollen, wie auch nur die dich-
terische
Natur ihre Kräfte in ihm erschöpfet. So
lange mir Apollo nicht den Wunsch erfüllet, die Me-
tamorphosen des menschlichen Geistes auch in einer
solchen Metamorphose meines Geistes durchwan-
deln und durchleben zu können: so lange ich nicht

mit
a) p. 19. Jch weis diesen Ausdruck, als gewöhnliche la-
teinische Phrasis; allein ich mag keine Phrasis, die es
ursprünglich nicht war, die keine Wahrheit hinter sich
hat.
B

Zweites Waͤldchen.
Und was wuͤrde aus Homer, wenn er ſich nach je-
dem Kunſtrichter haͤtte richten wollen?

Nein! mein Homer ſoll ſich nicht nach mei-
nem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des ſeini-
gen moͤgen ſo weit abgehen, als ſie wollen. Jch bin
zu beſcheiden, ihn ſummam vim & menſuram in-
genii humani
zu nennen a): denn wer bin ich, daß
ich die geſammten Kraͤfte der Natur waͤgen, und
das Maaß erfaſſen wollte, das die Menſur des
menſchlichen Geiſtes enthaͤlt? Wer bin ich, daß ich
die Linie ziehen koͤnnte: ſo hoch reicht Homer, und
ſo hoch kann der menſchliche Geiſt reichen! So ſehr
ich ihn, als die edle Erſtgeburt der ſchoͤnen dichteri-
ſchen Natur in Griechenland, liebe; ſo gern ich
ihn, als den Vater aller griechiſchen Dichter, vereh-
re: ſo bloͤde bin ich, ihn, als den Umfang, als das
Maaß des menſchlichen Geiſtes, zu betrachten: ſo
bloͤde, es abwaͤgen zu wollen, wie auch nur die dich-
teriſche
Natur ihre Kraͤfte in ihm erſchoͤpfet. So
lange mir Apollo nicht den Wunſch erfuͤllet, die Me-
tamorphoſen des menſchlichen Geiſtes auch in einer
ſolchen Metamorphoſe meines Geiſtes durchwan-
deln und durchleben zu koͤnnen: ſo lange ich nicht

mit
a) p. 19. Jch weis dieſen Ausdruck, als gewoͤhnliche la-
teiniſche Phraſis; allein ich mag keine Phraſis, die eſ
urſpruͤnglich nicht war, die keine Wahrheit hinter ſich
hat.
B
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[17/0023] Zweites Waͤldchen. Und was wuͤrde aus Homer, wenn er ſich nach je- dem Kunſtrichter haͤtte richten wollen? Nein! mein Homer ſoll ſich nicht nach mei- nem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des ſeini- gen moͤgen ſo weit abgehen, als ſie wollen. Jch bin zu beſcheiden, ihn ſummam vim & menſuram in- genii humani zu nennen a): denn wer bin ich, daß ich die geſammten Kraͤfte der Natur waͤgen, und das Maaß erfaſſen wollte, das die Menſur des menſchlichen Geiſtes enthaͤlt? Wer bin ich, daß ich die Linie ziehen koͤnnte: ſo hoch reicht Homer, und ſo hoch kann der menſchliche Geiſt reichen! So ſehr ich ihn, als die edle Erſtgeburt der ſchoͤnen dichteri- ſchen Natur in Griechenland, liebe; ſo gern ich ihn, als den Vater aller griechiſchen Dichter, vereh- re: ſo bloͤde bin ich, ihn, als den Umfang, als das Maaß des menſchlichen Geiſtes, zu betrachten: ſo bloͤde, es abwaͤgen zu wollen, wie auch nur die dich- teriſche Natur ihre Kraͤfte in ihm erſchoͤpfet. So lange mir Apollo nicht den Wunſch erfuͤllet, die Me- tamorphoſen des menſchlichen Geiſtes auch in einer ſolchen Metamorphoſe meines Geiſtes durchwan- deln und durchleben zu koͤnnen: ſo lange ich nicht mit a) p. 19. Jch weis dieſen Ausdruck, als gewoͤhnliche la- teiniſche Phraſis; allein ich mag keine Phraſis, die eſ urſpruͤnglich nicht war, die keine Wahrheit hinter ſich hat. B

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/23>, abgerufen am 29.03.2024.