Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.Melis-pi^'l der Alliierten. Durch den Botschafter Jussemnd wie gewöhnlich schlecht informiert, Melis-pi^'l der Alliierten. Durch den Botschafter Jussemnd wie gewöhnlich schlecht informiert, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339873"/> <fw type="header" place="top"> Melis-pi^'l</fw><lb/> <p xml:id="ID_1307" prev="#ID_1306" next="#ID_1308"> der Alliierten. Durch den Botschafter Jussemnd wie gewöhnlich schlecht informiert,<lb/> ist Briand nach Washington gegangen, zunächst um der unangenehmen Finanz¬<lb/> debatte auszuweichen, sodann aber sicher in der unbestimmten Hoffnung, durch<lb/> eine englandfeindliche Haltung extra, mindestens von Amerika Garantien gegen<lb/> einen „neuen deutschen Angriff" zu bekommen oder die Streichung der franzö¬<lb/> sischen Auslandsschuldeil an die Vereinigten Staaten durchzusetzen. Von Anfang<lb/> an ist ihm zu verstehen gegeben, daß an beide nicht zu denken sei. Eine etwa<lb/> erreichte Annäherung an Japan wird in Frankreich wenig Eindruck machen,<lb/> England gegenüber ist die Stimmung in Frankreich schlechter als je und zwar<lb/> handelt es sich diesmal sichtlich nicht um eine planmäßige Kampagne oder einen<lb/> Ausdruck vorübergehender schlechter Stimmung, sondern um eine chronische Ver¬<lb/> giftung der Beziehungen. Man braucht nur die Kommentare zum Notenwechsel<lb/> über den Angoravertrag zu lesen, um das festzustellen. Hinzukommt, daß man<lb/> die Engländer der Deutschfreundlichkeit beschuldigt, seit sie ohnehin durch schwere<lb/> .Konflikte aä kröne Anet abroac! bedroht, nicht tatenlos zusehen wollen, wie ihr<lb/> bester Kunde Deutschtand durch die Havgierigkcit und verschwenderische Wirtschaft<lb/> Frankreichs, das fortwährend mit der faustdicken Lüge, es sei schwerer besteuert<lb/> als Deutschland, operiert, ruiniert wird. Hinzukommen die auf den Londoner<lb/> Konferenzen gemachten Erfahrungen, das Verhalten Englands dem Wiesbadener<lb/> Abkommen gegenüber und bei der Verteilung der ersten deutschen ReparationN-<lb/> milliarde, hinzukommen endlich die Reibereien in Konstantinopel, wo englische<lb/> und französische Dienststellen sich bereits nicht mehr grüßen. Ob angesichts dieser<lb/> Mißstimmung Briand seinen alten Refrain von der Aufrechterhaltung der<lb/> Allianzen wird aufrechterhalten können, erscheint zum mindesten zweifelhaft. Die<lb/> Tendenz geht auf Selbständigkeit, auf freie Hand in erster Linie Deutschland<lb/> gegenüber. Nicht wenig wirkt auch die innerpolitische Lage auf diese Entscheidung<lb/> hin. Briand steht im Verdacht, mit den bei den Wahlen geschlagenen Nadikalsozialisten<lb/> zu sympathisieren und die Bildung eines neuen Linksblocks zu begünstigen. Der<lb/> bisherige Rechts- oder Nationalblock befürchtet von dieser Orientierung zweierlei-<lb/> Wiederaufnahme des Kampfes um die Laiengcsctzgebung nebst Zurückdrängung<lb/> des während des Krieges gewachsenen Einflusses der Klerikalen und Besteuerung<lb/> des Vermögens und Einkommens. Bisher ist es Briand durch äußerst geschicktes bald<lb/> Verhandeln, bald Hinhalten gelungen, dem .Klerikalismus Genüge zu tuu, ohne<lb/> daS in den Verwaltungen und Klubs noch immer sehr mächtige Freimaurer- oder<lb/> doch Freidentertum allzu stark zu beunruhigen, und falls es gelingt, die fran-<lb/> Mischen Bischöfe, die allerdings zum Teil im wörtlichen Sinne päpstlicher als<lb/> der Papst sind, für einen Kompromiß zu gewinnen, sind vorderhand von dieser<lb/> Seite keine neuen Verwicklungen zu befürchten. Anders wird die Situation<lb/> '.-.atmlich hier wie überall, sobald es um Geld geht. Schon gegen die bisher<lb/> bewilligten Kriegsgewinn-, Einkommen- und Vermögenssteuern wird als Haupt¬<lb/> argument ins Feld geführt, daß sie mangelhaft eingehen und hinter den Vor¬<lb/> anschlägen weit zurückbleiben. Jetzt haben gar die Radikal-Sozialisten, um ein<lb/> Programm zu bilden, dem auch die bisher noch zwischen Lmksblockpolitik und<lb/> Klassenkampf unentschieden schwankenden Sozialisten beipflichten könnten, eine<lb/> Zwangsanleihe vom Vermögen vorgeschlagen, während der Bion national fest<lb/> entschlossen ist, jedes im französischen Budget entstehende Defizit durch die von<lb/> Deutschland erwarteten Zahlungen auszufüllen. Es wird nun alles davon ab¬<lb/> hängen, in welcher Weise Steuerscheu und Einsicht in finanzielle Notwendigkeiten<lb/> sich innerhalb der französischen Bevölkerung verteilen. Das Argument, daß erst<lb/> Deutschland, dann Frankreich zahlen müsse, ist gewiß einleuchtend und wirksam,<lb/> andererseits zeigt der Ausgang der Nach- und Ersatzwahlen, daß die Bevölkerung<lb/> immer stärker von der Politik des Bion national abzurücken geneigt ist. Wiederum<lb/> zeigt aber der Folter-Zwischenfall auf der internationalen Ausstellung für Luft¬<lb/> schiffahrt in Paris, daß die Parole Antiboche noch immer sehr zugkräftig ist.<lb/> Typisch ist ja auch das Verhalten gegen die Möglichkeit des Wiederaufbaues durch<lb/> deutsche Arbeiter. Die geschädigte Bevölkerung ist mit durchschnittlich 84 Prozent</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0324]
Melis-pi^'l
der Alliierten. Durch den Botschafter Jussemnd wie gewöhnlich schlecht informiert,
ist Briand nach Washington gegangen, zunächst um der unangenehmen Finanz¬
debatte auszuweichen, sodann aber sicher in der unbestimmten Hoffnung, durch
eine englandfeindliche Haltung extra, mindestens von Amerika Garantien gegen
einen „neuen deutschen Angriff" zu bekommen oder die Streichung der franzö¬
sischen Auslandsschuldeil an die Vereinigten Staaten durchzusetzen. Von Anfang
an ist ihm zu verstehen gegeben, daß an beide nicht zu denken sei. Eine etwa
erreichte Annäherung an Japan wird in Frankreich wenig Eindruck machen,
England gegenüber ist die Stimmung in Frankreich schlechter als je und zwar
handelt es sich diesmal sichtlich nicht um eine planmäßige Kampagne oder einen
Ausdruck vorübergehender schlechter Stimmung, sondern um eine chronische Ver¬
giftung der Beziehungen. Man braucht nur die Kommentare zum Notenwechsel
über den Angoravertrag zu lesen, um das festzustellen. Hinzukommt, daß man
die Engländer der Deutschfreundlichkeit beschuldigt, seit sie ohnehin durch schwere
.Konflikte aä kröne Anet abroac! bedroht, nicht tatenlos zusehen wollen, wie ihr
bester Kunde Deutschtand durch die Havgierigkcit und verschwenderische Wirtschaft
Frankreichs, das fortwährend mit der faustdicken Lüge, es sei schwerer besteuert
als Deutschland, operiert, ruiniert wird. Hinzukommen die auf den Londoner
Konferenzen gemachten Erfahrungen, das Verhalten Englands dem Wiesbadener
Abkommen gegenüber und bei der Verteilung der ersten deutschen ReparationN-
milliarde, hinzukommen endlich die Reibereien in Konstantinopel, wo englische
und französische Dienststellen sich bereits nicht mehr grüßen. Ob angesichts dieser
Mißstimmung Briand seinen alten Refrain von der Aufrechterhaltung der
Allianzen wird aufrechterhalten können, erscheint zum mindesten zweifelhaft. Die
Tendenz geht auf Selbständigkeit, auf freie Hand in erster Linie Deutschland
gegenüber. Nicht wenig wirkt auch die innerpolitische Lage auf diese Entscheidung
hin. Briand steht im Verdacht, mit den bei den Wahlen geschlagenen Nadikalsozialisten
zu sympathisieren und die Bildung eines neuen Linksblocks zu begünstigen. Der
bisherige Rechts- oder Nationalblock befürchtet von dieser Orientierung zweierlei-
Wiederaufnahme des Kampfes um die Laiengcsctzgebung nebst Zurückdrängung
des während des Krieges gewachsenen Einflusses der Klerikalen und Besteuerung
des Vermögens und Einkommens. Bisher ist es Briand durch äußerst geschicktes bald
Verhandeln, bald Hinhalten gelungen, dem .Klerikalismus Genüge zu tuu, ohne
daS in den Verwaltungen und Klubs noch immer sehr mächtige Freimaurer- oder
doch Freidentertum allzu stark zu beunruhigen, und falls es gelingt, die fran-
Mischen Bischöfe, die allerdings zum Teil im wörtlichen Sinne päpstlicher als
der Papst sind, für einen Kompromiß zu gewinnen, sind vorderhand von dieser
Seite keine neuen Verwicklungen zu befürchten. Anders wird die Situation
'.-.atmlich hier wie überall, sobald es um Geld geht. Schon gegen die bisher
bewilligten Kriegsgewinn-, Einkommen- und Vermögenssteuern wird als Haupt¬
argument ins Feld geführt, daß sie mangelhaft eingehen und hinter den Vor¬
anschlägen weit zurückbleiben. Jetzt haben gar die Radikal-Sozialisten, um ein
Programm zu bilden, dem auch die bisher noch zwischen Lmksblockpolitik und
Klassenkampf unentschieden schwankenden Sozialisten beipflichten könnten, eine
Zwangsanleihe vom Vermögen vorgeschlagen, während der Bion national fest
entschlossen ist, jedes im französischen Budget entstehende Defizit durch die von
Deutschland erwarteten Zahlungen auszufüllen. Es wird nun alles davon ab¬
hängen, in welcher Weise Steuerscheu und Einsicht in finanzielle Notwendigkeiten
sich innerhalb der französischen Bevölkerung verteilen. Das Argument, daß erst
Deutschland, dann Frankreich zahlen müsse, ist gewiß einleuchtend und wirksam,
andererseits zeigt der Ausgang der Nach- und Ersatzwahlen, daß die Bevölkerung
immer stärker von der Politik des Bion national abzurücken geneigt ist. Wiederum
zeigt aber der Folter-Zwischenfall auf der internationalen Ausstellung für Luft¬
schiffahrt in Paris, daß die Parole Antiboche noch immer sehr zugkräftig ist.
Typisch ist ja auch das Verhalten gegen die Möglichkeit des Wiederaufbaues durch
deutsche Arbeiter. Die geschädigte Bevölkerung ist mit durchschnittlich 84 Prozent
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