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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Berliner Bühne

[Beginn Spaltensatz]

Szene hinausgezögerten ersten Verleum¬
dungsszene zwischen Othello und Jago.

Diese Bemerkungen können den
musikalischen Grundcharakter der Auf¬
führung nur andeuten. Der Raum
reicht weder, um den rhythmischen Auf¬
bau der Einzelszenen, noch, um auch
die rhythmischen Beziehungen zwischen
den Szenen nachzuzeichnen (eine einzige
Szene nur schien ganz verkannt zu sein:
die vorletzte des Dramas mit dem Zwei¬
kampf zwischen Cassio und Rodrigo,
deren wilde Bewegung auf eine amü¬
sante Stecherei reduziert war). Aber
die strenge Unterordnung der szenischen
Architektonik unter den rhythmischen Auf¬
bau des Ganzen darf nicht unerwähnt
bleiben. Hier war nirgendwo der örtliche
Charakter der Szene milieuhaft verselb¬
ständigt. Nur das zur individuellen
Kennzeichnung des Orts oder als Stütze
der Darstellung unbedingt Erforderliche
stand auf der Bühne, zu der von der
Rampe und vom Hintergründe zwei
ihre ganze Breite einnehmende Stufen
emporführten, um im Mittelraum zu
einem noch zwei Stufen höheren quadrat-
förmigen Podium aufzusteigen. Dieser
für statuarische Gruppen glücklich ge¬
wählte Aufbau war nicht immer mit
dem gleichen Glück szenisch ausgestaltet.
Wesentlich ist aber, daß raumbildende
Faktoren die im wechselnden Licht
stehenden menschlichen Gestalten waren
(wie schon in "Richard III."). und daß
ihr Sichbegegnen, ihre Bewegung unter¬
einander, ihre Konfiguration, ihre
Gruppenbildung, optisch von oft be-
wundernswerter Eindringlichkeit, nichts
anderes als die Übersetzung des klang¬
lich-rhythmischen Aufbaus ins Architek¬
tonisch-Bildhafte sein wollte und war.

Der dramengeschichtliche Charakter
dieser Othello-Aufführung (zu deren
wichtigstenDarstellernnochNudolfForster
gehört) liegt in der endgültigen Abkehr
von der Behandlung dieser wie der
Shakespeareschen Tragödien überhaupt
als Charaktertragödien. Die rationa¬
listisch-psychologische Ausdeutung Shake¬
speares, ein Jahrhundert lang in dick¬
leibigen Walzern und dünnblütigcn
Schulaufsätzeu bis zum Überdruß ab-
genutzt, weicht einer neuen, intuitiv-
gläubigen, die menschliche Natur und
ihre Leidenschaften, nicht ihre ethische

[Spaltenumbruch]

Reflexion, als dramatischen Wert er¬
fassender Anschauung. Man erkennt,
daß nicht, wie die Schulmeinung geht,
individuell abgesonderte Menschen im
Kampf mit der Welt, der sittlichen
Ordnung oder wie man das nennt
zugrunde gehen, sondern daß Shake¬
speares Menschen an der dramatische!!
Entfesselung ihrer naturhaft großen
vitalen Leidenschaften, ihres über sie
Herr werdenden Dämons zerschellen.
In der Othello-Tragödie entfesselt Jago
den Dämon in dem Helden. Jago ist
das ungeheuerliche Werkzeug der wider-
natürlichen Natur, die das Blut ihres
besten Sohnes vergiftet, daß er blind¬
wütig rasen muß, bis er die Geliebte
und "ich selbst vernichtet hat.

Es war der bedauerlichste Mangel
der Aufführung im Staatslheater, daß
ihr ein Schauspieler für diese zentrale
Gestalt der Tragödie fehlte (es gibt in
Deutschland nur einen Schauspieler, der
sie spielen könnte). Aber es war ihre
Größe, daß der Darsteller des Othello.
Fritz Kortner, jenen mythischen Sinn
seiner Rolle erkannt hatte. Er war
nicht -- nach dem alten Rezept -- ein
nur scheinbar tierischer, in bewußter
Männlichkeit daherschreitender und dann
Pläne der Eifersucht ergrübelnder
Liebender. Er trieb, von seinem Dämon
gejagt, aus selig'blinder Verzückung in
unselig-blinde Besessenheit. Indem er
so einen ganz im Gewoge seiner Leiden¬
schaften aufgehenden und untergehenden
Menschen schuf, den er doch mit außer¬
ordentlichem Takt seiner eigenen in¬
tellektuellen Natur anpaßte (nur daß
ihm wohl doch der dramatisch unum¬
gängliche wildeste Sturm rasender Ver¬
zweiflung versagt blieb), löschte er alle
Zweifel an feiner Blindheit erst gegen
die Verruchtheit Jagos, dann gegen die
Reinheit Desdemonas aus. Ja. er er¬
hellte vielmehr erst durch diese Dar¬
stellung die dichterische Absicht Shake¬
speares und sein dichterisches Recht,
kraft dessen er einen Höllenhund von
nicht mehr menschlichem Ausmaß als
Othellos Verderber und ein Himmels¬
wesen von überirdischem Adel als Opfer
des doch im Glück so menschlich-sanften
Mohren hinstellen konnte.

Gegenüber der Othello-Aufführung,
deren Merkmaleinnere Bewegung, geistige

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Szene hinausgezögerten ersten Verleum¬
dungsszene zwischen Othello und Jago.

Diese Bemerkungen können den
musikalischen Grundcharakter der Auf¬
führung nur andeuten. Der Raum
reicht weder, um den rhythmischen Auf¬
bau der Einzelszenen, noch, um auch
die rhythmischen Beziehungen zwischen
den Szenen nachzuzeichnen (eine einzige
Szene nur schien ganz verkannt zu sein:
die vorletzte des Dramas mit dem Zwei¬
kampf zwischen Cassio und Rodrigo,
deren wilde Bewegung auf eine amü¬
sante Stecherei reduziert war). Aber
die strenge Unterordnung der szenischen
Architektonik unter den rhythmischen Auf¬
bau des Ganzen darf nicht unerwähnt
bleiben. Hier war nirgendwo der örtliche
Charakter der Szene milieuhaft verselb¬
ständigt. Nur das zur individuellen
Kennzeichnung des Orts oder als Stütze
der Darstellung unbedingt Erforderliche
stand auf der Bühne, zu der von der
Rampe und vom Hintergründe zwei
ihre ganze Breite einnehmende Stufen
emporführten, um im Mittelraum zu
einem noch zwei Stufen höheren quadrat-
förmigen Podium aufzusteigen. Dieser
für statuarische Gruppen glücklich ge¬
wählte Aufbau war nicht immer mit
dem gleichen Glück szenisch ausgestaltet.
Wesentlich ist aber, daß raumbildende
Faktoren die im wechselnden Licht
stehenden menschlichen Gestalten waren
(wie schon in „Richard III."). und daß
ihr Sichbegegnen, ihre Bewegung unter¬
einander, ihre Konfiguration, ihre
Gruppenbildung, optisch von oft be-
wundernswerter Eindringlichkeit, nichts
anderes als die Übersetzung des klang¬
lich-rhythmischen Aufbaus ins Architek¬
tonisch-Bildhafte sein wollte und war.

Der dramengeschichtliche Charakter
dieser Othello-Aufführung (zu deren
wichtigstenDarstellernnochNudolfForster
gehört) liegt in der endgültigen Abkehr
von der Behandlung dieser wie der
Shakespeareschen Tragödien überhaupt
als Charaktertragödien. Die rationa¬
listisch-psychologische Ausdeutung Shake¬
speares, ein Jahrhundert lang in dick¬
leibigen Walzern und dünnblütigcn
Schulaufsätzeu bis zum Überdruß ab-
genutzt, weicht einer neuen, intuitiv-
gläubigen, die menschliche Natur und
ihre Leidenschaften, nicht ihre ethische

[Spaltenumbruch]

Reflexion, als dramatischen Wert er¬
fassender Anschauung. Man erkennt,
daß nicht, wie die Schulmeinung geht,
individuell abgesonderte Menschen im
Kampf mit der Welt, der sittlichen
Ordnung oder wie man das nennt
zugrunde gehen, sondern daß Shake¬
speares Menschen an der dramatische!!
Entfesselung ihrer naturhaft großen
vitalen Leidenschaften, ihres über sie
Herr werdenden Dämons zerschellen.
In der Othello-Tragödie entfesselt Jago
den Dämon in dem Helden. Jago ist
das ungeheuerliche Werkzeug der wider-
natürlichen Natur, die das Blut ihres
besten Sohnes vergiftet, daß er blind¬
wütig rasen muß, bis er die Geliebte
und »ich selbst vernichtet hat.

Es war der bedauerlichste Mangel
der Aufführung im Staatslheater, daß
ihr ein Schauspieler für diese zentrale
Gestalt der Tragödie fehlte (es gibt in
Deutschland nur einen Schauspieler, der
sie spielen könnte). Aber es war ihre
Größe, daß der Darsteller des Othello.
Fritz Kortner, jenen mythischen Sinn
seiner Rolle erkannt hatte. Er war
nicht — nach dem alten Rezept — ein
nur scheinbar tierischer, in bewußter
Männlichkeit daherschreitender und dann
Pläne der Eifersucht ergrübelnder
Liebender. Er trieb, von seinem Dämon
gejagt, aus selig'blinder Verzückung in
unselig-blinde Besessenheit. Indem er
so einen ganz im Gewoge seiner Leiden¬
schaften aufgehenden und untergehenden
Menschen schuf, den er doch mit außer¬
ordentlichem Takt seiner eigenen in¬
tellektuellen Natur anpaßte (nur daß
ihm wohl doch der dramatisch unum¬
gängliche wildeste Sturm rasender Ver¬
zweiflung versagt blieb), löschte er alle
Zweifel an feiner Blindheit erst gegen
die Verruchtheit Jagos, dann gegen die
Reinheit Desdemonas aus. Ja. er er¬
hellte vielmehr erst durch diese Dar¬
stellung die dichterische Absicht Shake¬
speares und sein dichterisches Recht,
kraft dessen er einen Höllenhund von
nicht mehr menschlichem Ausmaß als
Othellos Verderber und ein Himmels¬
wesen von überirdischem Adel als Opfer
des doch im Glück so menschlich-sanften
Mohren hinstellen konnte.

Gegenüber der Othello-Aufführung,
deren Merkmaleinnere Bewegung, geistige

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[0293] Berliner Bühne Szene hinausgezögerten ersten Verleum¬ dungsszene zwischen Othello und Jago. Diese Bemerkungen können den musikalischen Grundcharakter der Auf¬ führung nur andeuten. Der Raum reicht weder, um den rhythmischen Auf¬ bau der Einzelszenen, noch, um auch die rhythmischen Beziehungen zwischen den Szenen nachzuzeichnen (eine einzige Szene nur schien ganz verkannt zu sein: die vorletzte des Dramas mit dem Zwei¬ kampf zwischen Cassio und Rodrigo, deren wilde Bewegung auf eine amü¬ sante Stecherei reduziert war). Aber die strenge Unterordnung der szenischen Architektonik unter den rhythmischen Auf¬ bau des Ganzen darf nicht unerwähnt bleiben. Hier war nirgendwo der örtliche Charakter der Szene milieuhaft verselb¬ ständigt. Nur das zur individuellen Kennzeichnung des Orts oder als Stütze der Darstellung unbedingt Erforderliche stand auf der Bühne, zu der von der Rampe und vom Hintergründe zwei ihre ganze Breite einnehmende Stufen emporführten, um im Mittelraum zu einem noch zwei Stufen höheren quadrat- förmigen Podium aufzusteigen. Dieser für statuarische Gruppen glücklich ge¬ wählte Aufbau war nicht immer mit dem gleichen Glück szenisch ausgestaltet. Wesentlich ist aber, daß raumbildende Faktoren die im wechselnden Licht stehenden menschlichen Gestalten waren (wie schon in „Richard III."). und daß ihr Sichbegegnen, ihre Bewegung unter¬ einander, ihre Konfiguration, ihre Gruppenbildung, optisch von oft be- wundernswerter Eindringlichkeit, nichts anderes als die Übersetzung des klang¬ lich-rhythmischen Aufbaus ins Architek¬ tonisch-Bildhafte sein wollte und war. Der dramengeschichtliche Charakter dieser Othello-Aufführung (zu deren wichtigstenDarstellernnochNudolfForster gehört) liegt in der endgültigen Abkehr von der Behandlung dieser wie der Shakespeareschen Tragödien überhaupt als Charaktertragödien. Die rationa¬ listisch-psychologische Ausdeutung Shake¬ speares, ein Jahrhundert lang in dick¬ leibigen Walzern und dünnblütigcn Schulaufsätzeu bis zum Überdruß ab- genutzt, weicht einer neuen, intuitiv- gläubigen, die menschliche Natur und ihre Leidenschaften, nicht ihre ethische Reflexion, als dramatischen Wert er¬ fassender Anschauung. Man erkennt, daß nicht, wie die Schulmeinung geht, individuell abgesonderte Menschen im Kampf mit der Welt, der sittlichen Ordnung oder wie man das nennt zugrunde gehen, sondern daß Shake¬ speares Menschen an der dramatische!! Entfesselung ihrer naturhaft großen vitalen Leidenschaften, ihres über sie Herr werdenden Dämons zerschellen. In der Othello-Tragödie entfesselt Jago den Dämon in dem Helden. Jago ist das ungeheuerliche Werkzeug der wider- natürlichen Natur, die das Blut ihres besten Sohnes vergiftet, daß er blind¬ wütig rasen muß, bis er die Geliebte und »ich selbst vernichtet hat. Es war der bedauerlichste Mangel der Aufführung im Staatslheater, daß ihr ein Schauspieler für diese zentrale Gestalt der Tragödie fehlte (es gibt in Deutschland nur einen Schauspieler, der sie spielen könnte). Aber es war ihre Größe, daß der Darsteller des Othello. Fritz Kortner, jenen mythischen Sinn seiner Rolle erkannt hatte. Er war nicht — nach dem alten Rezept — ein nur scheinbar tierischer, in bewußter Männlichkeit daherschreitender und dann Pläne der Eifersucht ergrübelnder Liebender. Er trieb, von seinem Dämon gejagt, aus selig'blinder Verzückung in unselig-blinde Besessenheit. Indem er so einen ganz im Gewoge seiner Leiden¬ schaften aufgehenden und untergehenden Menschen schuf, den er doch mit außer¬ ordentlichem Takt seiner eigenen in¬ tellektuellen Natur anpaßte (nur daß ihm wohl doch der dramatisch unum¬ gängliche wildeste Sturm rasender Ver¬ zweiflung versagt blieb), löschte er alle Zweifel an feiner Blindheit erst gegen die Verruchtheit Jagos, dann gegen die Reinheit Desdemonas aus. Ja. er er¬ hellte vielmehr erst durch diese Dar¬ stellung die dichterische Absicht Shake¬ speares und sein dichterisches Recht, kraft dessen er einen Höllenhund von nicht mehr menschlichem Ausmaß als Othellos Verderber und ein Himmels¬ wesen von überirdischem Adel als Opfer des doch im Glück so menschlich-sanften Mohren hinstellen konnte. Gegenüber der Othello-Aufführung, deren Merkmaleinnere Bewegung, geistige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/293>, abgerufen am 27.09.2024.