Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.Der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen berufen, um die Ansprüche der Parteien abzuweisen. Denn er war es gewesen, Wir können es verstehen, daß die Minister sich für den Kaiser entschieden. Manch aufrichtiger Vaterlandsfreund mag bekennen, daß in einer Zeit, w" Der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen berufen, um die Ansprüche der Parteien abzuweisen. Denn er war es gewesen, Wir können es verstehen, daß die Minister sich für den Kaiser entschieden. Manch aufrichtiger Vaterlandsfreund mag bekennen, daß in einer Zeit, w» <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339725"/> <fw type="header" place="top"> Der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_725" prev="#ID_724"> berufen, um die Ansprüche der Parteien abzuweisen. Denn er war es gewesen,<lb/> der diesen Willen mit einem verantwortlichen Rat bestimmt hatte. Nun stieß er<lb/> auf einen energischen selbstbewußten Willen, der sich seinem Einfluß unzugänglich<lb/> zeigte, dagegen allerhand unverantwortlichen Ratgebern offen stand. Und mit<lb/> tiefem Ingrimm mußte Bismarck sehen, daß selbst seine nächsten Mitarbeiter in<lb/> dem Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Kanzler für den Monarchen gegen<lb/> den Minister eintraten.</p><lb/> <p xml:id="ID_726"> Wir können es verstehen, daß die Minister sich für den Kaiser entschieden.<lb/> Einmal waren es doch vielfach ihre Ansichten, die der Kaiser verfocht. Boetticher<lb/> hatte sich längst für die Fortführung der Sozialpolitik eingesetzt. Und dann waren<lb/> sie alle doch gerade von Bismarck dazu erzogen worden — so sagt er ja selbst<lb/> in diesem dritten Bande —, nicht eigene Überzeugungen selbständig zu vertreten,<lb/> mit ihnen zu stehen und zu fallen, sondern die Befehle eines überlegenen Willens<lb/> auszuführen. Der entscheidende Wille in Deutschland aber war der des Monarchen.<lb/> Das war Bismarcks Werk, und die Tragik für Bismarck lag nun darin, daß sein<lb/> Werk sich gegen ihn wendete; er hatte alle Widerstände zerrissen, nun fand er<lb/> selbst keine Stütze gegenüber seinem Monarchen. Es ist Bismarcks Verhängnis<lb/> gewesen, aber zugleich das Verhängnis des Reiches. Es sind die Epigonen, die<lb/> das Reich Bismarcks in den Abgrund geführt haben und es ist doch auch das<lb/> Schicksal des Genius, daß er Epigonen, keine ebenbürtigen Nachfolger findet.</p><lb/> <p xml:id="ID_727"> Manch aufrichtiger Vaterlandsfreund mag bekennen, daß in einer Zeit, w»<lb/> uns Sammlung aller Kräfte für die schweren Aufgaben der Gegenwart und der<lb/> Zukunft nottut, alte Wunden der Vergangenheit von neuem aufgerissen werden.<lb/> Aber ich glaube nicht,'daß diese Stimmung berechtigt ist. Gewiß: wir müssen<lb/> und können uns wehren gegen die heute beliebte Verunglimpfung unserer Ver¬<lb/> gangenheit, wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die guten Seiten des<lb/> alten kaiserlichen Deutschlands nicht ungerecht verdunkelt werden, daß die großen<lb/> Leistungen auch des Zeitalters Wilhelms II,, die in dem heroischen Kampfe gegen<lb/> eine Welt von Waffen in dem vierjährigen Ausharren gegen eine gewaltige<lb/> Übermacht gipfeln, nicht vergessen werden. Erst die Verbindung des überstarken<lb/> Drucks von außen mit den inneren Gegensätzen hat den Zusammenbruch herbei¬<lb/> geführt. Der geistige Wiederaufbau Deutschlands kann erst dann erfolgen, wenn<lb/> wir in einer einheitlichen Beurteilung unserer Vergangenheit eine feste gemein¬<lb/> same Grundlage besitzen. Diese Grundlage zu bereiten, ist die nächste Aufgabe,<lb/> die der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung gestellt ist. Aber es<lb/> ist selbstverständlich, daß diese Aufgabe nur mit rückhaltloser Ehrlichkeit, die auch<lb/> Schwächen aufdeckt, gelöst werden kann. Wir brauchen sie nicht nur, um das<lb/> heute fehlende Vertrauen der Massen zu den Ergebnissen unserer Wissenschaft<lb/> wieder zu gewinnen, sondern wir brauchen sie für uns selbst, um zu verstehen,<lb/> wie nach dem glänzenden Aufstieg der jähe Absturz möglich gewesen ist. In<lb/> diesem Geiste bleiben wir Bismarck treu und können für die Söhne und Enkel<lb/> arbeiten: Zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0176]
Der dritte Band von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen
berufen, um die Ansprüche der Parteien abzuweisen. Denn er war es gewesen,
der diesen Willen mit einem verantwortlichen Rat bestimmt hatte. Nun stieß er
auf einen energischen selbstbewußten Willen, der sich seinem Einfluß unzugänglich
zeigte, dagegen allerhand unverantwortlichen Ratgebern offen stand. Und mit
tiefem Ingrimm mußte Bismarck sehen, daß selbst seine nächsten Mitarbeiter in
dem Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Kanzler für den Monarchen gegen
den Minister eintraten.
Wir können es verstehen, daß die Minister sich für den Kaiser entschieden.
Einmal waren es doch vielfach ihre Ansichten, die der Kaiser verfocht. Boetticher
hatte sich längst für die Fortführung der Sozialpolitik eingesetzt. Und dann waren
sie alle doch gerade von Bismarck dazu erzogen worden — so sagt er ja selbst
in diesem dritten Bande —, nicht eigene Überzeugungen selbständig zu vertreten,
mit ihnen zu stehen und zu fallen, sondern die Befehle eines überlegenen Willens
auszuführen. Der entscheidende Wille in Deutschland aber war der des Monarchen.
Das war Bismarcks Werk, und die Tragik für Bismarck lag nun darin, daß sein
Werk sich gegen ihn wendete; er hatte alle Widerstände zerrissen, nun fand er
selbst keine Stütze gegenüber seinem Monarchen. Es ist Bismarcks Verhängnis
gewesen, aber zugleich das Verhängnis des Reiches. Es sind die Epigonen, die
das Reich Bismarcks in den Abgrund geführt haben und es ist doch auch das
Schicksal des Genius, daß er Epigonen, keine ebenbürtigen Nachfolger findet.
Manch aufrichtiger Vaterlandsfreund mag bekennen, daß in einer Zeit, w»
uns Sammlung aller Kräfte für die schweren Aufgaben der Gegenwart und der
Zukunft nottut, alte Wunden der Vergangenheit von neuem aufgerissen werden.
Aber ich glaube nicht,'daß diese Stimmung berechtigt ist. Gewiß: wir müssen
und können uns wehren gegen die heute beliebte Verunglimpfung unserer Ver¬
gangenheit, wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die guten Seiten des
alten kaiserlichen Deutschlands nicht ungerecht verdunkelt werden, daß die großen
Leistungen auch des Zeitalters Wilhelms II,, die in dem heroischen Kampfe gegen
eine Welt von Waffen in dem vierjährigen Ausharren gegen eine gewaltige
Übermacht gipfeln, nicht vergessen werden. Erst die Verbindung des überstarken
Drucks von außen mit den inneren Gegensätzen hat den Zusammenbruch herbei¬
geführt. Der geistige Wiederaufbau Deutschlands kann erst dann erfolgen, wenn
wir in einer einheitlichen Beurteilung unserer Vergangenheit eine feste gemein¬
same Grundlage besitzen. Diese Grundlage zu bereiten, ist die nächste Aufgabe,
die der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung gestellt ist. Aber es
ist selbstverständlich, daß diese Aufgabe nur mit rückhaltloser Ehrlichkeit, die auch
Schwächen aufdeckt, gelöst werden kann. Wir brauchen sie nicht nur, um das
heute fehlende Vertrauen der Massen zu den Ergebnissen unserer Wissenschaft
wieder zu gewinnen, sondern wir brauchen sie für uns selbst, um zu verstehen,
wie nach dem glänzenden Aufstieg der jähe Absturz möglich gewesen ist. In
diesem Geiste bleiben wir Bismarck treu und können für die Söhne und Enkel
arbeiten: Zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft.
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