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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Staatenbund von Nordeuropa

kann überhaupt nur für den Fall die Rede sein, daß der Krieg beendet ist,
und auch nur für den Fall, daß Deutschland ihn stegreich beendet. Nicht im
entferntesten sollen diese Betrachtungen bezwecken, irgend welche diplomatische
Verhandlungen anzuregen. Die europäische Diplomatie hat sich nicht mit Rubri
bedeckt. Ob Anlaß vorliegt, den einheimischen Diplomaten, die bei den feind¬
lichen Mächten beglaubigt waren, Kränze zu winden, das läßt sich aus dem
bisher vorliegenden Material nicht ersehen. Wäre indessen die seit neun Jahren
angezettelte Verschwörung in ihrem vollen Umfange früher entdeckt, so wäre
jedenfalls manche Fürstenbegegnung, manches Verbrüderungsfest und manche
Selbsttäuschung uns erspart worden, und es wären dem Deutschen Reiche mehr
Sympathien der Neutralen zugefallen, als dies bisher der Fall war. Aber auch
auf der Gegenseite wird man die Früchte der diplomatischen Künste mit
gemischten Gefühlen genießen. Zu Anfang des Krieges, als eine Kriegserklärung
der anderen folgte, konnte der Deutsche wohl unruhig und fast neidisch auf
das dichte Netz von Bündnissen blicken, mit dem die kluge britische Staatskunst
verstanden hatte, sich zu umgeben und Deutschland zu isolieren. Die Arbeit
war in ihrer Art wirklich bewunderungswürdig. Sollte es aber nicht doch ein
Danaergeschenk gewesen sein, das die anscheinend so listigen Staatsmänner ihren
Ländern bereitet haben? Wie weit reichte denn das Bündnis, zu dem vor
hundert Jahren Napoleon der Erste das widerstrebende Preußen zwang?
Und wie weit reichte das Bündnis, das in unseren Tagen innerhalb des
erneuten Dreibundes zwei Reiche auf dem Papier vereinigte, die in ihrem
nationalen Empfinden so gar nicht miteinander einig waren? -- Belgien
liegt bereits am Boden. Es kann unmöglich Gefühle der Dankbarkeit
gegen den Bundesgenossen hegen, dem es sein Unglück in erster Linie zuschreiben
muß. Auch Frankreich und Rußland haben, so viel ersichtlich, wenig Grund,
des Tages freudig zu gedenken, an dem sie sich bestimmen ließen, mit dem
alten Feinde gemeinsame Sache zu machen. England selbst, in seiner geschützten
Lage, hat zwar verhältnismäßig am wenigsten gelitten. Daß aber die Stimmung
dort eine frohe, gehobene, zuversichtliche wäre, daß die öffentliche Meinung,
wie sie in den führenden Blättern sich ausspricht, den Leitern der Regierung
Vertrauen und Anerkennung für ihre Tätigkeit entgegenbrächte, das läßt sich
nicht behaupten. Die künstliche Vereinigung von Mächten, deren Interessen
einander in Lebensfragen zuwiderlaufen, -- diese innere Unwahrheit, wird vor¬
aussichtlich das Ende dieses Krieges nicht erleben.

Auf ganz anderem Boden muß der Staatenbund erwachsen, von dem hier die
Rede ist. Man verwerfe ihn von vornherein als leeres Hirngespinst, wenn sich bei
schärfster Prüfung nicht ergibt, daß der dem Plan zugrunde liegende Gedanke ein ge¬
sunder ist. Der Bund hat nur dann Daseinsberechtigung, wenn er den ewigen Ge¬
setzen der Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, die am letzten Ende in Krieg und
Frieden über alle kurzsichtigen Diplomatenkünste, über allen Trug und alle
Treulosigkeit triumphieren. Der Staatenbund hat nur dann Daseinsberechtigung,

Grenzboten I 1916 4

Staatenbund von Nordeuropa

kann überhaupt nur für den Fall die Rede sein, daß der Krieg beendet ist,
und auch nur für den Fall, daß Deutschland ihn stegreich beendet. Nicht im
entferntesten sollen diese Betrachtungen bezwecken, irgend welche diplomatische
Verhandlungen anzuregen. Die europäische Diplomatie hat sich nicht mit Rubri
bedeckt. Ob Anlaß vorliegt, den einheimischen Diplomaten, die bei den feind¬
lichen Mächten beglaubigt waren, Kränze zu winden, das läßt sich aus dem
bisher vorliegenden Material nicht ersehen. Wäre indessen die seit neun Jahren
angezettelte Verschwörung in ihrem vollen Umfange früher entdeckt, so wäre
jedenfalls manche Fürstenbegegnung, manches Verbrüderungsfest und manche
Selbsttäuschung uns erspart worden, und es wären dem Deutschen Reiche mehr
Sympathien der Neutralen zugefallen, als dies bisher der Fall war. Aber auch
auf der Gegenseite wird man die Früchte der diplomatischen Künste mit
gemischten Gefühlen genießen. Zu Anfang des Krieges, als eine Kriegserklärung
der anderen folgte, konnte der Deutsche wohl unruhig und fast neidisch auf
das dichte Netz von Bündnissen blicken, mit dem die kluge britische Staatskunst
verstanden hatte, sich zu umgeben und Deutschland zu isolieren. Die Arbeit
war in ihrer Art wirklich bewunderungswürdig. Sollte es aber nicht doch ein
Danaergeschenk gewesen sein, das die anscheinend so listigen Staatsmänner ihren
Ländern bereitet haben? Wie weit reichte denn das Bündnis, zu dem vor
hundert Jahren Napoleon der Erste das widerstrebende Preußen zwang?
Und wie weit reichte das Bündnis, das in unseren Tagen innerhalb des
erneuten Dreibundes zwei Reiche auf dem Papier vereinigte, die in ihrem
nationalen Empfinden so gar nicht miteinander einig waren? — Belgien
liegt bereits am Boden. Es kann unmöglich Gefühle der Dankbarkeit
gegen den Bundesgenossen hegen, dem es sein Unglück in erster Linie zuschreiben
muß. Auch Frankreich und Rußland haben, so viel ersichtlich, wenig Grund,
des Tages freudig zu gedenken, an dem sie sich bestimmen ließen, mit dem
alten Feinde gemeinsame Sache zu machen. England selbst, in seiner geschützten
Lage, hat zwar verhältnismäßig am wenigsten gelitten. Daß aber die Stimmung
dort eine frohe, gehobene, zuversichtliche wäre, daß die öffentliche Meinung,
wie sie in den führenden Blättern sich ausspricht, den Leitern der Regierung
Vertrauen und Anerkennung für ihre Tätigkeit entgegenbrächte, das läßt sich
nicht behaupten. Die künstliche Vereinigung von Mächten, deren Interessen
einander in Lebensfragen zuwiderlaufen, — diese innere Unwahrheit, wird vor¬
aussichtlich das Ende dieses Krieges nicht erleben.

Auf ganz anderem Boden muß der Staatenbund erwachsen, von dem hier die
Rede ist. Man verwerfe ihn von vornherein als leeres Hirngespinst, wenn sich bei
schärfster Prüfung nicht ergibt, daß der dem Plan zugrunde liegende Gedanke ein ge¬
sunder ist. Der Bund hat nur dann Daseinsberechtigung, wenn er den ewigen Ge¬
setzen der Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, die am letzten Ende in Krieg und
Frieden über alle kurzsichtigen Diplomatenkünste, über allen Trug und alle
Treulosigkeit triumphieren. Der Staatenbund hat nur dann Daseinsberechtigung,

Grenzboten I 1916 4

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[0061] Staatenbund von Nordeuropa Grenzboten I 1916 4 kann überhaupt nur für den Fall die Rede sein, daß der Krieg beendet ist, und auch nur für den Fall, daß Deutschland ihn stegreich beendet. Nicht im entferntesten sollen diese Betrachtungen bezwecken, irgend welche diplomatische Verhandlungen anzuregen. Die europäische Diplomatie hat sich nicht mit Rubri bedeckt. Ob Anlaß vorliegt, den einheimischen Diplomaten, die bei den feind¬ lichen Mächten beglaubigt waren, Kränze zu winden, das läßt sich aus dem bisher vorliegenden Material nicht ersehen. Wäre indessen die seit neun Jahren angezettelte Verschwörung in ihrem vollen Umfange früher entdeckt, so wäre jedenfalls manche Fürstenbegegnung, manches Verbrüderungsfest und manche Selbsttäuschung uns erspart worden, und es wären dem Deutschen Reiche mehr Sympathien der Neutralen zugefallen, als dies bisher der Fall war. Aber auch auf der Gegenseite wird man die Früchte der diplomatischen Künste mit gemischten Gefühlen genießen. Zu Anfang des Krieges, als eine Kriegserklärung der anderen folgte, konnte der Deutsche wohl unruhig und fast neidisch auf das dichte Netz von Bündnissen blicken, mit dem die kluge britische Staatskunst verstanden hatte, sich zu umgeben und Deutschland zu isolieren. Die Arbeit war in ihrer Art wirklich bewunderungswürdig. Sollte es aber nicht doch ein Danaergeschenk gewesen sein, das die anscheinend so listigen Staatsmänner ihren Ländern bereitet haben? Wie weit reichte denn das Bündnis, zu dem vor hundert Jahren Napoleon der Erste das widerstrebende Preußen zwang? Und wie weit reichte das Bündnis, das in unseren Tagen innerhalb des erneuten Dreibundes zwei Reiche auf dem Papier vereinigte, die in ihrem nationalen Empfinden so gar nicht miteinander einig waren? — Belgien liegt bereits am Boden. Es kann unmöglich Gefühle der Dankbarkeit gegen den Bundesgenossen hegen, dem es sein Unglück in erster Linie zuschreiben muß. Auch Frankreich und Rußland haben, so viel ersichtlich, wenig Grund, des Tages freudig zu gedenken, an dem sie sich bestimmen ließen, mit dem alten Feinde gemeinsame Sache zu machen. England selbst, in seiner geschützten Lage, hat zwar verhältnismäßig am wenigsten gelitten. Daß aber die Stimmung dort eine frohe, gehobene, zuversichtliche wäre, daß die öffentliche Meinung, wie sie in den führenden Blättern sich ausspricht, den Leitern der Regierung Vertrauen und Anerkennung für ihre Tätigkeit entgegenbrächte, das läßt sich nicht behaupten. Die künstliche Vereinigung von Mächten, deren Interessen einander in Lebensfragen zuwiderlaufen, — diese innere Unwahrheit, wird vor¬ aussichtlich das Ende dieses Krieges nicht erleben. Auf ganz anderem Boden muß der Staatenbund erwachsen, von dem hier die Rede ist. Man verwerfe ihn von vornherein als leeres Hirngespinst, wenn sich bei schärfster Prüfung nicht ergibt, daß der dem Plan zugrunde liegende Gedanke ein ge¬ sunder ist. Der Bund hat nur dann Daseinsberechtigung, wenn er den ewigen Ge¬ setzen der Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, die am letzten Ende in Krieg und Frieden über alle kurzsichtigen Diplomatenkünste, über allen Trug und alle Treulosigkeit triumphieren. Der Staatenbund hat nur dann Daseinsberechtigung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/61>, abgerufen am 27.09.2024.