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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsch-englische Gegensatz

Einfuhr nach Deutschland betrug in den letzten Jahren über 800 Millionen
Mark jährlich. Deutschlands Ausfuhr nach England sogar mehr als 1100 Millionen
Mark. Es scheint demnach, als ob uns der Verlust des englischen Marktes
mehr schädigen würde, als England der Verlust des deutschen. Aber es scheint
nur so, denn von den 800 Millionen Mark englischer Waren geht -- als Roh¬
stoffe und Halbfabrikate oder als englische Spezialitäten -- ein viel größerer
Teil in den deutschen Konsum als von den 1100 Millionen Mark deutscher
Ausfuhr in den englischen. Das will sagen: ein sehr großer Teil des deutschen
Exportes geht nur über London. Wenn diese Verbindungen abgerissen sind,
dann wird der deutsche Kaufmann die Wege zum direkten Absatz scholl finden.
Man denke nur an die Bevölkerungsziffer, hier 67, dort 46 Millionen. Dieser
Unterschied allein weist schon darauf hin, daß England für Deutschland mehr
Vermittler als Selbstverbraucher ist.

Wie aber steht es mit dem Import im Werte von 800 Millionen, müssen
wir diesen von England beziehen? Drei Fünftel davon entfallen auf Edelmetalle.
Steinkohlen und Garne. Das stolze England, dessen Industrie ein Jahrhundert
lang die Welt beherrschte, ist gegenüber Deutschland in eine bescheidene Stellung
geraten, so bescheiden wie die einer Kolonie. Es muß sich damit begnügen,
seinem Konkurrenten in der Hauptsache Rohstoffe und halbfertige Waren zu
liefern. Unter diesen stehen an erster Stelle Wollen-, Baumwollen' und Leinen¬
garne. Müssen diese Waren aus England bezogen werden? Zum Teil ja,
denn gewisse feine Garne können bis heute auf dem Festlande nicht verfertigt
werde". Aber einen großen Teil kann Deutschland selbst erzeugen. Die
Verarbeitung roher Baumwolle ist von 1833 bis 1912 in England um 250000,
in Deutschland um 350000 Tonnen gestiegen.

An zweiter Stelle steht in der Einfuhr aus England Steinkohle mit
166 Millionen Mark. Aber es ist nicht so, als ob Deutschland seinen Stein¬
kohlenbedarf nicht selbst decken könnte, denn es führt fast zweieinhalbmal soviel
Steinkohlen aus als ein. Nur der billige Seeweg, der die Verfrachtung nach
den Nord- und Ostseehäfen begünstigt, hat die Einfuhr englischer Steinkohlen
so groß werden lassen. Im übrigen weist die Einfuhr aus England, abgesehen
von Gold, nur einen nennenswerten großen Posten auf: es sind Heringe und
andere Salzwasserfische. Der Wert dieser Einfuhr betrug in den letzten Jahren
36 bis 38 Millionen Mark. Der Ausfall dieser Zufuhr wird gegenwärtig
vielleicht am schmerzlichsten empfunden, da es sich um Nahrungsmittel weniger
bemittelter Volksschichten handelt. Es wird nach dem Kriege die Aufgabe der
deutschen Hochseefischerei sein, die sich seit einigen Jahren kräftig entwickelt
hat, Deutschland von dieser Einfuhr noch mehr als bisher unabhängig zu
machen.

Wenn man die Ausfuhr Englands und Deutschlands miteinander ver¬
gleicht, dann sällt sofort auf, daß die deutsche Industrie auf viel breiterer
Grundlage aufgebaut ist, als die Englands. Englands Ausfuhr ruht auf drei


Der deutsch-englische Gegensatz

Einfuhr nach Deutschland betrug in den letzten Jahren über 800 Millionen
Mark jährlich. Deutschlands Ausfuhr nach England sogar mehr als 1100 Millionen
Mark. Es scheint demnach, als ob uns der Verlust des englischen Marktes
mehr schädigen würde, als England der Verlust des deutschen. Aber es scheint
nur so, denn von den 800 Millionen Mark englischer Waren geht — als Roh¬
stoffe und Halbfabrikate oder als englische Spezialitäten — ein viel größerer
Teil in den deutschen Konsum als von den 1100 Millionen Mark deutscher
Ausfuhr in den englischen. Das will sagen: ein sehr großer Teil des deutschen
Exportes geht nur über London. Wenn diese Verbindungen abgerissen sind,
dann wird der deutsche Kaufmann die Wege zum direkten Absatz scholl finden.
Man denke nur an die Bevölkerungsziffer, hier 67, dort 46 Millionen. Dieser
Unterschied allein weist schon darauf hin, daß England für Deutschland mehr
Vermittler als Selbstverbraucher ist.

Wie aber steht es mit dem Import im Werte von 800 Millionen, müssen
wir diesen von England beziehen? Drei Fünftel davon entfallen auf Edelmetalle.
Steinkohlen und Garne. Das stolze England, dessen Industrie ein Jahrhundert
lang die Welt beherrschte, ist gegenüber Deutschland in eine bescheidene Stellung
geraten, so bescheiden wie die einer Kolonie. Es muß sich damit begnügen,
seinem Konkurrenten in der Hauptsache Rohstoffe und halbfertige Waren zu
liefern. Unter diesen stehen an erster Stelle Wollen-, Baumwollen' und Leinen¬
garne. Müssen diese Waren aus England bezogen werden? Zum Teil ja,
denn gewisse feine Garne können bis heute auf dem Festlande nicht verfertigt
werde«. Aber einen großen Teil kann Deutschland selbst erzeugen. Die
Verarbeitung roher Baumwolle ist von 1833 bis 1912 in England um 250000,
in Deutschland um 350000 Tonnen gestiegen.

An zweiter Stelle steht in der Einfuhr aus England Steinkohle mit
166 Millionen Mark. Aber es ist nicht so, als ob Deutschland seinen Stein¬
kohlenbedarf nicht selbst decken könnte, denn es führt fast zweieinhalbmal soviel
Steinkohlen aus als ein. Nur der billige Seeweg, der die Verfrachtung nach
den Nord- und Ostseehäfen begünstigt, hat die Einfuhr englischer Steinkohlen
so groß werden lassen. Im übrigen weist die Einfuhr aus England, abgesehen
von Gold, nur einen nennenswerten großen Posten auf: es sind Heringe und
andere Salzwasserfische. Der Wert dieser Einfuhr betrug in den letzten Jahren
36 bis 38 Millionen Mark. Der Ausfall dieser Zufuhr wird gegenwärtig
vielleicht am schmerzlichsten empfunden, da es sich um Nahrungsmittel weniger
bemittelter Volksschichten handelt. Es wird nach dem Kriege die Aufgabe der
deutschen Hochseefischerei sein, die sich seit einigen Jahren kräftig entwickelt
hat, Deutschland von dieser Einfuhr noch mehr als bisher unabhängig zu
machen.

Wenn man die Ausfuhr Englands und Deutschlands miteinander ver¬
gleicht, dann sällt sofort auf, daß die deutsche Industrie auf viel breiterer
Grundlage aufgebaut ist, als die Englands. Englands Ausfuhr ruht auf drei


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[0051] Der deutsch-englische Gegensatz Einfuhr nach Deutschland betrug in den letzten Jahren über 800 Millionen Mark jährlich. Deutschlands Ausfuhr nach England sogar mehr als 1100 Millionen Mark. Es scheint demnach, als ob uns der Verlust des englischen Marktes mehr schädigen würde, als England der Verlust des deutschen. Aber es scheint nur so, denn von den 800 Millionen Mark englischer Waren geht — als Roh¬ stoffe und Halbfabrikate oder als englische Spezialitäten — ein viel größerer Teil in den deutschen Konsum als von den 1100 Millionen Mark deutscher Ausfuhr in den englischen. Das will sagen: ein sehr großer Teil des deutschen Exportes geht nur über London. Wenn diese Verbindungen abgerissen sind, dann wird der deutsche Kaufmann die Wege zum direkten Absatz scholl finden. Man denke nur an die Bevölkerungsziffer, hier 67, dort 46 Millionen. Dieser Unterschied allein weist schon darauf hin, daß England für Deutschland mehr Vermittler als Selbstverbraucher ist. Wie aber steht es mit dem Import im Werte von 800 Millionen, müssen wir diesen von England beziehen? Drei Fünftel davon entfallen auf Edelmetalle. Steinkohlen und Garne. Das stolze England, dessen Industrie ein Jahrhundert lang die Welt beherrschte, ist gegenüber Deutschland in eine bescheidene Stellung geraten, so bescheiden wie die einer Kolonie. Es muß sich damit begnügen, seinem Konkurrenten in der Hauptsache Rohstoffe und halbfertige Waren zu liefern. Unter diesen stehen an erster Stelle Wollen-, Baumwollen' und Leinen¬ garne. Müssen diese Waren aus England bezogen werden? Zum Teil ja, denn gewisse feine Garne können bis heute auf dem Festlande nicht verfertigt werde«. Aber einen großen Teil kann Deutschland selbst erzeugen. Die Verarbeitung roher Baumwolle ist von 1833 bis 1912 in England um 250000, in Deutschland um 350000 Tonnen gestiegen. An zweiter Stelle steht in der Einfuhr aus England Steinkohle mit 166 Millionen Mark. Aber es ist nicht so, als ob Deutschland seinen Stein¬ kohlenbedarf nicht selbst decken könnte, denn es führt fast zweieinhalbmal soviel Steinkohlen aus als ein. Nur der billige Seeweg, der die Verfrachtung nach den Nord- und Ostseehäfen begünstigt, hat die Einfuhr englischer Steinkohlen so groß werden lassen. Im übrigen weist die Einfuhr aus England, abgesehen von Gold, nur einen nennenswerten großen Posten auf: es sind Heringe und andere Salzwasserfische. Der Wert dieser Einfuhr betrug in den letzten Jahren 36 bis 38 Millionen Mark. Der Ausfall dieser Zufuhr wird gegenwärtig vielleicht am schmerzlichsten empfunden, da es sich um Nahrungsmittel weniger bemittelter Volksschichten handelt. Es wird nach dem Kriege die Aufgabe der deutschen Hochseefischerei sein, die sich seit einigen Jahren kräftig entwickelt hat, Deutschland von dieser Einfuhr noch mehr als bisher unabhängig zu machen. Wenn man die Ausfuhr Englands und Deutschlands miteinander ver¬ gleicht, dann sällt sofort auf, daß die deutsche Industrie auf viel breiterer Grundlage aufgebaut ist, als die Englands. Englands Ausfuhr ruht auf drei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/51>, abgerufen am 27.09.2024.