Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.Geschichtsphilosophische Probleme denke an die dreisprachige Schweiz; auch nicht die Gemeinsamkeit der Zwecke -- Nun aber kommt erst zum vierten das, was gewöhnlich als Gegenstand Eine Vorfrage ist dabei die: wenn die Geschichte einen Zweck, ein Ziel Geschichtsphilosophische Probleme denke an die dreisprachige Schweiz; auch nicht die Gemeinsamkeit der Zwecke — Nun aber kommt erst zum vierten das, was gewöhnlich als Gegenstand Eine Vorfrage ist dabei die: wenn die Geschichte einen Zweck, ein Ziel <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323503"/> <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Probleme</fw><lb/> <p xml:id="ID_1400" prev="#ID_1399"> denke an die dreisprachige Schweiz; auch nicht die Gemeinsamkeit der Zwecke —<lb/> sie hat auch eine Aktiengesellschaft, sondern lediglich das gemeinsame geschichtliche<lb/> Erleben, das in zweihundertjähriger Zugehörigkeit zum großen französischen<lb/> Staat die Elsaß-Lothringer zu Franzosen gemacht hat und durch das dieser<lb/> Krieg an seinem siegreichen Ende sie — hoffentlich! — zu deutschen Staats¬<lb/> bürgern machen und mit Staatsbewußtsein erfüllen wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1401"> Nun aber kommt erst zum vierten das, was gewöhnlich als Gegenstand<lb/> und Hauptproblem einer Philosophie der Geschichte angesehen wird, die meta¬<lb/> physische Frage, ob die Geschichte einen Sinn und einen Zweck habe? Auf<lb/> metaphysische Fragen gibt es bekanntlich nur hypothetische Antworten. Setzen<lb/> wir statt Zweck „Ziel", so wissen wir, daß gerade da die Sozialdemokratie<lb/> besonders metaphysisch und wiederum besonders dogmatisch denkt, indem sie das<lb/> Endziel zu kennen behauptet und es materialistisch, ökonomisch bestimmt — als<lb/> den Kommunismus nach der Expropriation der Expropriateure und als die<lb/> Überwindung des Nationalismus durch die Internationale. Aber von erkenntnis¬<lb/> theoretisch geschulten Sozialdemokraten selbst ist dagegen das Wort geprägt<lb/> worden: „Das Endziel ist nichts, die Bewegung ist alles." Warum es nun<lb/> aber so schwer oder geradezu unmöglich ist. jene Frage zu beantworten, ist das:<lb/> wir haben von der Geschichte nur einen ganz kleinen Ausschnitt, kennen weder<lb/> den Anfang noch das Ende. Wenn wir annehmen, daß das Menschengeschlecht<lb/> hunderttausend Jahre alt ist und noch hunderttausend Jahre lang bestehen werde<lb/> — und diese Zahlen find vermutlich nach rückwärts und nach vorwärts zu<lb/> klein —, so kennen-wir davon etwa sechstausend Jahre, also einen ganz kleinen<lb/> Ausschnitt. Nun kann man freilich aus jedem Torso auf das Ganze schließen,<lb/> nur sind diese Schlüsse um so unsicherer, je kleiner die bekannten Stücke sind;<lb/> und hier sind sie vermutlich winzig.</p><lb/> <p xml:id="ID_1402" next="#ID_1403"> Eine Vorfrage ist dabei die: wenn die Geschichte einen Zweck, ein Ziel<lb/> hätte, sind dann nicht alle Generationen vor Erreichung dieses Ziels nur<lb/> Mittel, das Ziel wird vielleicht erst von der allerletzten erreicht und erlebt? Da¬<lb/> gegen darf man doch fragen, ob nicht auch hier immer und jedesmal der Lebende<lb/> Recht hat, jede Generation ihr eigenes Leben lebt und ihren eigenen selbst¬<lb/> ständigen Wert besitzt? Damit würde der Gedanke des Endziels auch hier<lb/> verschwinden und von der Geschichte überhaupt gelten, daß die Bewegung<lb/> alles sei. Allein statt Bewegung sagen wir hier doch lieber Entwicklung, und<lb/> dann ist der Zweck- und Zielgedanke alsbald wieder da. Dem tritt nun die<lb/> Anschauung gegenüber, daß sich nichts entwickle, sondern daß es immer ein und<lb/> dasselbe sei: der Mensch bleibe im Guten und Bösen, im Glück und Unglück<lb/> stets der gleiche, die Menschheit als ganze stehe still auf einer Linie, um die<lb/> sich der Pendel des geschichtlichen Lebens auf und ab bewegt; der Unterschied<lb/> der verschiedenen Perioden sei nur der, ob diese Schwingungen lebhafter oder<lb/> langsamer, die Differenzierungen größer oder kleiner seien. Das letzte Wort<lb/> dieser Stillstandshypothese, dieses Schwingens und Schwankens um einen Null-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0406]
Geschichtsphilosophische Probleme
denke an die dreisprachige Schweiz; auch nicht die Gemeinsamkeit der Zwecke —
sie hat auch eine Aktiengesellschaft, sondern lediglich das gemeinsame geschichtliche
Erleben, das in zweihundertjähriger Zugehörigkeit zum großen französischen
Staat die Elsaß-Lothringer zu Franzosen gemacht hat und durch das dieser
Krieg an seinem siegreichen Ende sie — hoffentlich! — zu deutschen Staats¬
bürgern machen und mit Staatsbewußtsein erfüllen wird.
Nun aber kommt erst zum vierten das, was gewöhnlich als Gegenstand
und Hauptproblem einer Philosophie der Geschichte angesehen wird, die meta¬
physische Frage, ob die Geschichte einen Sinn und einen Zweck habe? Auf
metaphysische Fragen gibt es bekanntlich nur hypothetische Antworten. Setzen
wir statt Zweck „Ziel", so wissen wir, daß gerade da die Sozialdemokratie
besonders metaphysisch und wiederum besonders dogmatisch denkt, indem sie das
Endziel zu kennen behauptet und es materialistisch, ökonomisch bestimmt — als
den Kommunismus nach der Expropriation der Expropriateure und als die
Überwindung des Nationalismus durch die Internationale. Aber von erkenntnis¬
theoretisch geschulten Sozialdemokraten selbst ist dagegen das Wort geprägt
worden: „Das Endziel ist nichts, die Bewegung ist alles." Warum es nun
aber so schwer oder geradezu unmöglich ist. jene Frage zu beantworten, ist das:
wir haben von der Geschichte nur einen ganz kleinen Ausschnitt, kennen weder
den Anfang noch das Ende. Wenn wir annehmen, daß das Menschengeschlecht
hunderttausend Jahre alt ist und noch hunderttausend Jahre lang bestehen werde
— und diese Zahlen find vermutlich nach rückwärts und nach vorwärts zu
klein —, so kennen-wir davon etwa sechstausend Jahre, also einen ganz kleinen
Ausschnitt. Nun kann man freilich aus jedem Torso auf das Ganze schließen,
nur sind diese Schlüsse um so unsicherer, je kleiner die bekannten Stücke sind;
und hier sind sie vermutlich winzig.
Eine Vorfrage ist dabei die: wenn die Geschichte einen Zweck, ein Ziel
hätte, sind dann nicht alle Generationen vor Erreichung dieses Ziels nur
Mittel, das Ziel wird vielleicht erst von der allerletzten erreicht und erlebt? Da¬
gegen darf man doch fragen, ob nicht auch hier immer und jedesmal der Lebende
Recht hat, jede Generation ihr eigenes Leben lebt und ihren eigenen selbst¬
ständigen Wert besitzt? Damit würde der Gedanke des Endziels auch hier
verschwinden und von der Geschichte überhaupt gelten, daß die Bewegung
alles sei. Allein statt Bewegung sagen wir hier doch lieber Entwicklung, und
dann ist der Zweck- und Zielgedanke alsbald wieder da. Dem tritt nun die
Anschauung gegenüber, daß sich nichts entwickle, sondern daß es immer ein und
dasselbe sei: der Mensch bleibe im Guten und Bösen, im Glück und Unglück
stets der gleiche, die Menschheit als ganze stehe still auf einer Linie, um die
sich der Pendel des geschichtlichen Lebens auf und ab bewegt; der Unterschied
der verschiedenen Perioden sei nur der, ob diese Schwingungen lebhafter oder
langsamer, die Differenzierungen größer oder kleiner seien. Das letzte Wort
dieser Stillstandshypothese, dieses Schwingens und Schwankens um einen Null-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |