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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die Begründung des Königreichs Belgien

wartete geduldig neun Jahre in der von Belgien umschlossenen Bundesfestung,
bis auch der König-Großherzog Wilhelm diesen Beschlüssen beitrat, und
gab dann die Hälfte eines deutschen Bundeslandes kampflos an Belgien
preis.

Verständige Belgier haben später die Trennung von den Niederlanden als
ein Unglück beklagt. Namentlich die Vlamen nutzten einsehen, als sie den
Kampf um ihre Gleichberechtigung mit den Wallonen aufnahmen, daß sie diese
sprachliche Gleichberechtigung in einem niederländischen Gesamtstaate ohne
weiteres gehabt haben würden. Und selbst der Wallone Vauthier") meint in
zurückhaltender Selbstbescheidung: "Gegenüber der schon solange vollendeten
Tatsache erscheint die Frage unnütz, ob die belgische Revolution von 1830 für
Belgien ein glückliches oder bedauerliches Ereignis war. Selbst die, welche
letzterer Ansicht zuneigen, niüssen beklagen, daß die Regierung des Königs
Wilhelm (in mancher Hinsicht vorsichtig, eifrig und liberal) die Gabe, die
berechtigten Gefühle des belgischen Volkes zu schonen und dadurch die einge¬
tretene Entwicklung zu beschwören, nicht in reichlicherem Maße besessen hat."
Als ob die eingetretene Entwicklung ohne die tatkräftige Hilfe Englands und
Frankreichs überhaupt möglich gewesen wäre.

Abgesehen davon, daß die Trennung für die Vlamen wirklich ein nationales
Unglück bedeutete, war es wohl im wesentlichen das Gefühl des Unzureichender
des Kleinstaates, das diesen politischen Katzenjammer erzeugte. Nie sind daher
die Wünsche ganz verstummt, Belgien durch deutsches Gebiet zu erweitern,
obgleich dadurch der national gemischte europäische Kleinstaat vor noch unlös¬
barere nationale Aufgaben gestellt worden wäre. So dachte man in der Zeit
der Königssuche an den König von Sachsen, der sein Stammland an
Preußen überlassen, während Preußen die Rheinprovinz mit Aachen, Cöln
und Coblenz an Belgien abtreten sollte. Und noch zu Beginn des Krieges
tauchten Karten auf mit den neuen belgischen Grenzen, die nicht nur die Pfalz,
Rheinhessen und das linke Rheinufer der Rheinprovinz, sondern auch auf dem
rechten den rheinisch-westfälischen Jndustriebezirk umfaßten. Gegen Frankreich,
wo an den Grenzen eine stammverwandte vlämische und wallonische Bevölkerung
saß, die einst zu den Niederlanden gehört hatte, richteten sich solche Wünsche
niemals.

Der kluge Macchiavelli hat einmal gesagt, die Macht werde durch dieselben
Mittel behauptet, durch die sie erworben sei. Da in Belgien von der wesentlichen
Eigenschaft des Staates, Macht zu sein unter den Machten der Erde, nicht die
Rede sein konnte, kann man jenen Satz dahin erweitern, daß die Faktoren, die
bei der Begründung des Staates wirksam waren, auch seine ganze weitere
Betättgung bestimmten. Belgien war eine künstliche Schöpfung Englands und



*) Staatsrecht des Königreichs Belgien (aus Marquardsens Handbuch), Freiburg i, B.
1892, S. 16.
Die Begründung des Königreichs Belgien

wartete geduldig neun Jahre in der von Belgien umschlossenen Bundesfestung,
bis auch der König-Großherzog Wilhelm diesen Beschlüssen beitrat, und
gab dann die Hälfte eines deutschen Bundeslandes kampflos an Belgien
preis.

Verständige Belgier haben später die Trennung von den Niederlanden als
ein Unglück beklagt. Namentlich die Vlamen nutzten einsehen, als sie den
Kampf um ihre Gleichberechtigung mit den Wallonen aufnahmen, daß sie diese
sprachliche Gleichberechtigung in einem niederländischen Gesamtstaate ohne
weiteres gehabt haben würden. Und selbst der Wallone Vauthier") meint in
zurückhaltender Selbstbescheidung: „Gegenüber der schon solange vollendeten
Tatsache erscheint die Frage unnütz, ob die belgische Revolution von 1830 für
Belgien ein glückliches oder bedauerliches Ereignis war. Selbst die, welche
letzterer Ansicht zuneigen, niüssen beklagen, daß die Regierung des Königs
Wilhelm (in mancher Hinsicht vorsichtig, eifrig und liberal) die Gabe, die
berechtigten Gefühle des belgischen Volkes zu schonen und dadurch die einge¬
tretene Entwicklung zu beschwören, nicht in reichlicherem Maße besessen hat."
Als ob die eingetretene Entwicklung ohne die tatkräftige Hilfe Englands und
Frankreichs überhaupt möglich gewesen wäre.

Abgesehen davon, daß die Trennung für die Vlamen wirklich ein nationales
Unglück bedeutete, war es wohl im wesentlichen das Gefühl des Unzureichender
des Kleinstaates, das diesen politischen Katzenjammer erzeugte. Nie sind daher
die Wünsche ganz verstummt, Belgien durch deutsches Gebiet zu erweitern,
obgleich dadurch der national gemischte europäische Kleinstaat vor noch unlös¬
barere nationale Aufgaben gestellt worden wäre. So dachte man in der Zeit
der Königssuche an den König von Sachsen, der sein Stammland an
Preußen überlassen, während Preußen die Rheinprovinz mit Aachen, Cöln
und Coblenz an Belgien abtreten sollte. Und noch zu Beginn des Krieges
tauchten Karten auf mit den neuen belgischen Grenzen, die nicht nur die Pfalz,
Rheinhessen und das linke Rheinufer der Rheinprovinz, sondern auch auf dem
rechten den rheinisch-westfälischen Jndustriebezirk umfaßten. Gegen Frankreich,
wo an den Grenzen eine stammverwandte vlämische und wallonische Bevölkerung
saß, die einst zu den Niederlanden gehört hatte, richteten sich solche Wünsche
niemals.

Der kluge Macchiavelli hat einmal gesagt, die Macht werde durch dieselben
Mittel behauptet, durch die sie erworben sei. Da in Belgien von der wesentlichen
Eigenschaft des Staates, Macht zu sein unter den Machten der Erde, nicht die
Rede sein konnte, kann man jenen Satz dahin erweitern, daß die Faktoren, die
bei der Begründung des Staates wirksam waren, auch seine ganze weitere
Betättgung bestimmten. Belgien war eine künstliche Schöpfung Englands und



*) Staatsrecht des Königreichs Belgien (aus Marquardsens Handbuch), Freiburg i, B.
1892, S. 16.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/378>, abgerufen am 27.09.2024.