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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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vie Begründung des Königreichs Belgien

Bürgerkönig Louis Philipp jeden weiteren Bruch der 1815 begründeten Ordnung
der Dinge mit Freuden begrüßen, war aber doch viel zu feige, entschieden
Stellung zu nehmen und damit etwa den Angriff der alten Mächte auf Frankreich
zu lenken.

Da war es denn von entscheidender Bedeutung, daß England die Nieder¬
lande und die Oranier fallen ließ. Die geraubten niederländischen Kolonien
hatte es sicher, also lag ihm nichts daran, wenn die Niederlande die Ent¬
schädigung dafür verloren. Am 16. November 1830 trat das konservative
Ministerium Wellington zurück und wurde durch das liberale Ministerium Gren
ersetzt, in dem der Feuerbrand Lord Palmerston das Ministerium des Aus¬
wärtigen übernahm. Bald darauf erkannte England die Auflösung des bis¬
herigen Königreichs der Niederlande an.

Nie und nimmer hätte sich der neue Staat ans eigener Kraft gegen den
Willen der europäischen Mächte behaupten können. Belgien war eine gemeinsame
Gründung von England und Frankreich, besonders aber von England, mit
dessen Stellungnahme die Unabhängigkeit Belgiens entschieden war. Beide
Großmächte hatten damit an Stelle des niederländischen Gesamtstaates, der als
Mittelstaat doch einmal unbequem hätte werden können, zwei widerstandsunfähige
europäische Kleinstaaten vor ihren Grenzen. Die Ostmächte mußten diese
Gründung geschehen lassen, da Rußland durch die polnische Revolution gelähmt
war, und Preußen und Österreich allein den Krieg gegen Frankreich, das nun¬
mehr in der belgischen Frage eng mit England verbunden war, nicht aufnehmen
wollten.

Nachdem die Frage eigentlich schon entschieden war, trat eine Konferenz
der Großmächte zu ihrer Lösung in London zusammen. Sie konnte am
20. Dezember 1830 nichts anderes tun, als die Unabhängigkeit Belgiens zum
Ausgangspunkte ihrer Beratungen machen.

Zwei Punkte harrten nun vor allem der Erledigung: die Königsfrage und
die Auseinandersetzung mit den Niederlanden.

Der Gedanke der oranischen Partei, eine bloß administrative Trennung
des Südens vom Norden durchzuführen oder den Prinzen von Oranien zum
König vorläufig nur von Belgien zu erwählen, mußte bald aufgegeben werden,
da die Oranier alle Sympathien im Lande verloren hatten. Ebenso aussichtslos
waren die Bestrebungen einer ansehnlichen republikanischen Partei mit Rücksicht
auf die auswärtige Politik. Denn einer belgischen Republik würden die Gro߬
mächte nie zugestimmt haben, und ohne den Schutz Englands und Frankreichs
war das Land verloren. So entschied sich der Nationalkongreß für die erbliche
konstitutionelle Monarchie. Und im Interesse der Befestigung des neuen Zu-
standes lag es, möglichst bald die Königswahl vorzunehmen.

Schon im Oktober lenkten sich die Augen der Wähler im Nationalkongresse
auf den erst zwanzigjährigen Herzog von Nemours, dem Sohn des Bürgerkönigs
Louis Philipp, dessen Wahl den engsten Anschluß an Frankreich bedeutet hätte.


vie Begründung des Königreichs Belgien

Bürgerkönig Louis Philipp jeden weiteren Bruch der 1815 begründeten Ordnung
der Dinge mit Freuden begrüßen, war aber doch viel zu feige, entschieden
Stellung zu nehmen und damit etwa den Angriff der alten Mächte auf Frankreich
zu lenken.

Da war es denn von entscheidender Bedeutung, daß England die Nieder¬
lande und die Oranier fallen ließ. Die geraubten niederländischen Kolonien
hatte es sicher, also lag ihm nichts daran, wenn die Niederlande die Ent¬
schädigung dafür verloren. Am 16. November 1830 trat das konservative
Ministerium Wellington zurück und wurde durch das liberale Ministerium Gren
ersetzt, in dem der Feuerbrand Lord Palmerston das Ministerium des Aus¬
wärtigen übernahm. Bald darauf erkannte England die Auflösung des bis¬
herigen Königreichs der Niederlande an.

Nie und nimmer hätte sich der neue Staat ans eigener Kraft gegen den
Willen der europäischen Mächte behaupten können. Belgien war eine gemeinsame
Gründung von England und Frankreich, besonders aber von England, mit
dessen Stellungnahme die Unabhängigkeit Belgiens entschieden war. Beide
Großmächte hatten damit an Stelle des niederländischen Gesamtstaates, der als
Mittelstaat doch einmal unbequem hätte werden können, zwei widerstandsunfähige
europäische Kleinstaaten vor ihren Grenzen. Die Ostmächte mußten diese
Gründung geschehen lassen, da Rußland durch die polnische Revolution gelähmt
war, und Preußen und Österreich allein den Krieg gegen Frankreich, das nun¬
mehr in der belgischen Frage eng mit England verbunden war, nicht aufnehmen
wollten.

Nachdem die Frage eigentlich schon entschieden war, trat eine Konferenz
der Großmächte zu ihrer Lösung in London zusammen. Sie konnte am
20. Dezember 1830 nichts anderes tun, als die Unabhängigkeit Belgiens zum
Ausgangspunkte ihrer Beratungen machen.

Zwei Punkte harrten nun vor allem der Erledigung: die Königsfrage und
die Auseinandersetzung mit den Niederlanden.

Der Gedanke der oranischen Partei, eine bloß administrative Trennung
des Südens vom Norden durchzuführen oder den Prinzen von Oranien zum
König vorläufig nur von Belgien zu erwählen, mußte bald aufgegeben werden,
da die Oranier alle Sympathien im Lande verloren hatten. Ebenso aussichtslos
waren die Bestrebungen einer ansehnlichen republikanischen Partei mit Rücksicht
auf die auswärtige Politik. Denn einer belgischen Republik würden die Gro߬
mächte nie zugestimmt haben, und ohne den Schutz Englands und Frankreichs
war das Land verloren. So entschied sich der Nationalkongreß für die erbliche
konstitutionelle Monarchie. Und im Interesse der Befestigung des neuen Zu-
standes lag es, möglichst bald die Königswahl vorzunehmen.

Schon im Oktober lenkten sich die Augen der Wähler im Nationalkongresse
auf den erst zwanzigjährigen Herzog von Nemours, dem Sohn des Bürgerkönigs
Louis Philipp, dessen Wahl den engsten Anschluß an Frankreich bedeutet hätte.


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[0373] vie Begründung des Königreichs Belgien Bürgerkönig Louis Philipp jeden weiteren Bruch der 1815 begründeten Ordnung der Dinge mit Freuden begrüßen, war aber doch viel zu feige, entschieden Stellung zu nehmen und damit etwa den Angriff der alten Mächte auf Frankreich zu lenken. Da war es denn von entscheidender Bedeutung, daß England die Nieder¬ lande und die Oranier fallen ließ. Die geraubten niederländischen Kolonien hatte es sicher, also lag ihm nichts daran, wenn die Niederlande die Ent¬ schädigung dafür verloren. Am 16. November 1830 trat das konservative Ministerium Wellington zurück und wurde durch das liberale Ministerium Gren ersetzt, in dem der Feuerbrand Lord Palmerston das Ministerium des Aus¬ wärtigen übernahm. Bald darauf erkannte England die Auflösung des bis¬ herigen Königreichs der Niederlande an. Nie und nimmer hätte sich der neue Staat ans eigener Kraft gegen den Willen der europäischen Mächte behaupten können. Belgien war eine gemeinsame Gründung von England und Frankreich, besonders aber von England, mit dessen Stellungnahme die Unabhängigkeit Belgiens entschieden war. Beide Großmächte hatten damit an Stelle des niederländischen Gesamtstaates, der als Mittelstaat doch einmal unbequem hätte werden können, zwei widerstandsunfähige europäische Kleinstaaten vor ihren Grenzen. Die Ostmächte mußten diese Gründung geschehen lassen, da Rußland durch die polnische Revolution gelähmt war, und Preußen und Österreich allein den Krieg gegen Frankreich, das nun¬ mehr in der belgischen Frage eng mit England verbunden war, nicht aufnehmen wollten. Nachdem die Frage eigentlich schon entschieden war, trat eine Konferenz der Großmächte zu ihrer Lösung in London zusammen. Sie konnte am 20. Dezember 1830 nichts anderes tun, als die Unabhängigkeit Belgiens zum Ausgangspunkte ihrer Beratungen machen. Zwei Punkte harrten nun vor allem der Erledigung: die Königsfrage und die Auseinandersetzung mit den Niederlanden. Der Gedanke der oranischen Partei, eine bloß administrative Trennung des Südens vom Norden durchzuführen oder den Prinzen von Oranien zum König vorläufig nur von Belgien zu erwählen, mußte bald aufgegeben werden, da die Oranier alle Sympathien im Lande verloren hatten. Ebenso aussichtslos waren die Bestrebungen einer ansehnlichen republikanischen Partei mit Rücksicht auf die auswärtige Politik. Denn einer belgischen Republik würden die Gro߬ mächte nie zugestimmt haben, und ohne den Schutz Englands und Frankreichs war das Land verloren. So entschied sich der Nationalkongreß für die erbliche konstitutionelle Monarchie. Und im Interesse der Befestigung des neuen Zu- standes lag es, möglichst bald die Königswahl vorzunehmen. Schon im Oktober lenkten sich die Augen der Wähler im Nationalkongresse auf den erst zwanzigjährigen Herzog von Nemours, dem Sohn des Bürgerkönigs Louis Philipp, dessen Wahl den engsten Anschluß an Frankreich bedeutet hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/373>, abgerufen am 27.09.2024.