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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

dem Sonderbundkriege 1847 und der Begründung des Bundesstaates 1843
entwickelt hat, ist eine sorgfältig ausbalanzierte Demokratie. In der staatlichen
Wiedergeburt von 1848 wollte man nach Johannes Dieraners, des Historikers
der Eidgenossenschaft, abschließendem Urteil, einen starken Bundesstaat schaffen,
der als wahrhaft selbständiges, innerlich wachsendes nationales Werk dem
Lebensgesetz der Eidgenossenschaft entsprach und dessen freie Institutionen dem
Ringen nach den höchsten Leistungen menschlicher Gemeinschaft ungehemmte
Bahn eröffnen sollten. Das hat die Schweiz unbekümmert um Gunst und
Mißgunst der Nachbarn auch getan. Aus dem Heldenbuch seiner Geschichte,
in dem es sich zu lesen und zu lernen lohnt, hat es immer wieder den Mut
geschöpft, sich nach seinen eigenen Lebensgesetzen zu entwickeln. Daß es dabei
auch von Deutschland lernte, erkennt selbst I. Schollenberger an, sofern die
zentrale Gesetzgebung des Reiches der Schweiz nach innen mächtig Vorschub
leistete. Ein Recht, eine Armee, ein Verkehrswesen.

Es ist nun erklärlich, daß ein Staat wie die Schweiz, der in so hohem Maße in
seinem wirtschaftlichen Gedeihen'von der friedlichen Entwicklung Europas abhängt,
ein Staat, der fast alle wichtigen Rohstoffe für eine blühende Fertigindustrie ein¬
führen muß, der den Fremdenverkehr zur Befruchtung der ökonomischen Kraft
braucht, daß dieser Staat und seine Bevölkerung sich mit dem Weltkrieg in besonderen
Formen abfinden müssen. Man suchte, wenn auch nicht immer klar ausgesprochen,
den Schuldigen in Deutschland, weil es zuerst gewaffnet und gerüstet auf das
Schlachtfeld schritt. Man sah nicht die feine und stille Arbeit der Diplomatie
des Dreiverbandes, die dies Ergebnis zustande gebracht hatte. So wendete
sich der Unwille, der Unmut gegen Deutschland, nicht nur in der Schweiz,
sondern in fast allen neutralen Staaten. Wenn wir dies von der Schweiz
besonders hart empfinden, geschieht das, weil wir glaubten, die Stimme des
Blutes würde sich melden, wie dies in der romanischen Schweiz geschehen ist.
Es geschah nicht. Will man hierin nicht die größere Staatsklugheit der
Schweizer-Deutschen sehen, die in berechtigter Eigenliebe lediglich an ihr Land
denken, so bleibt als Erklärung nur, daß das Deutsche Reich sich mit Vor¬
urteilen und Befürchtungen herumschlagen muß, die nüchterner geschichtlicher
Prüfung nicht standhalten. Der Historiker, der Politiker, jeder einsichtige Kopf
unter den Schweizer-Deutschen wird uns beistimmen.




Deutschland und die Schweiz

dem Sonderbundkriege 1847 und der Begründung des Bundesstaates 1843
entwickelt hat, ist eine sorgfältig ausbalanzierte Demokratie. In der staatlichen
Wiedergeburt von 1848 wollte man nach Johannes Dieraners, des Historikers
der Eidgenossenschaft, abschließendem Urteil, einen starken Bundesstaat schaffen,
der als wahrhaft selbständiges, innerlich wachsendes nationales Werk dem
Lebensgesetz der Eidgenossenschaft entsprach und dessen freie Institutionen dem
Ringen nach den höchsten Leistungen menschlicher Gemeinschaft ungehemmte
Bahn eröffnen sollten. Das hat die Schweiz unbekümmert um Gunst und
Mißgunst der Nachbarn auch getan. Aus dem Heldenbuch seiner Geschichte,
in dem es sich zu lesen und zu lernen lohnt, hat es immer wieder den Mut
geschöpft, sich nach seinen eigenen Lebensgesetzen zu entwickeln. Daß es dabei
auch von Deutschland lernte, erkennt selbst I. Schollenberger an, sofern die
zentrale Gesetzgebung des Reiches der Schweiz nach innen mächtig Vorschub
leistete. Ein Recht, eine Armee, ein Verkehrswesen.

Es ist nun erklärlich, daß ein Staat wie die Schweiz, der in so hohem Maße in
seinem wirtschaftlichen Gedeihen'von der friedlichen Entwicklung Europas abhängt,
ein Staat, der fast alle wichtigen Rohstoffe für eine blühende Fertigindustrie ein¬
führen muß, der den Fremdenverkehr zur Befruchtung der ökonomischen Kraft
braucht, daß dieser Staat und seine Bevölkerung sich mit dem Weltkrieg in besonderen
Formen abfinden müssen. Man suchte, wenn auch nicht immer klar ausgesprochen,
den Schuldigen in Deutschland, weil es zuerst gewaffnet und gerüstet auf das
Schlachtfeld schritt. Man sah nicht die feine und stille Arbeit der Diplomatie
des Dreiverbandes, die dies Ergebnis zustande gebracht hatte. So wendete
sich der Unwille, der Unmut gegen Deutschland, nicht nur in der Schweiz,
sondern in fast allen neutralen Staaten. Wenn wir dies von der Schweiz
besonders hart empfinden, geschieht das, weil wir glaubten, die Stimme des
Blutes würde sich melden, wie dies in der romanischen Schweiz geschehen ist.
Es geschah nicht. Will man hierin nicht die größere Staatsklugheit der
Schweizer-Deutschen sehen, die in berechtigter Eigenliebe lediglich an ihr Land
denken, so bleibt als Erklärung nur, daß das Deutsche Reich sich mit Vor¬
urteilen und Befürchtungen herumschlagen muß, die nüchterner geschichtlicher
Prüfung nicht standhalten. Der Historiker, der Politiker, jeder einsichtige Kopf
unter den Schweizer-Deutschen wird uns beistimmen.




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[0342] Deutschland und die Schweiz dem Sonderbundkriege 1847 und der Begründung des Bundesstaates 1843 entwickelt hat, ist eine sorgfältig ausbalanzierte Demokratie. In der staatlichen Wiedergeburt von 1848 wollte man nach Johannes Dieraners, des Historikers der Eidgenossenschaft, abschließendem Urteil, einen starken Bundesstaat schaffen, der als wahrhaft selbständiges, innerlich wachsendes nationales Werk dem Lebensgesetz der Eidgenossenschaft entsprach und dessen freie Institutionen dem Ringen nach den höchsten Leistungen menschlicher Gemeinschaft ungehemmte Bahn eröffnen sollten. Das hat die Schweiz unbekümmert um Gunst und Mißgunst der Nachbarn auch getan. Aus dem Heldenbuch seiner Geschichte, in dem es sich zu lesen und zu lernen lohnt, hat es immer wieder den Mut geschöpft, sich nach seinen eigenen Lebensgesetzen zu entwickeln. Daß es dabei auch von Deutschland lernte, erkennt selbst I. Schollenberger an, sofern die zentrale Gesetzgebung des Reiches der Schweiz nach innen mächtig Vorschub leistete. Ein Recht, eine Armee, ein Verkehrswesen. Es ist nun erklärlich, daß ein Staat wie die Schweiz, der in so hohem Maße in seinem wirtschaftlichen Gedeihen'von der friedlichen Entwicklung Europas abhängt, ein Staat, der fast alle wichtigen Rohstoffe für eine blühende Fertigindustrie ein¬ führen muß, der den Fremdenverkehr zur Befruchtung der ökonomischen Kraft braucht, daß dieser Staat und seine Bevölkerung sich mit dem Weltkrieg in besonderen Formen abfinden müssen. Man suchte, wenn auch nicht immer klar ausgesprochen, den Schuldigen in Deutschland, weil es zuerst gewaffnet und gerüstet auf das Schlachtfeld schritt. Man sah nicht die feine und stille Arbeit der Diplomatie des Dreiverbandes, die dies Ergebnis zustande gebracht hatte. So wendete sich der Unwille, der Unmut gegen Deutschland, nicht nur in der Schweiz, sondern in fast allen neutralen Staaten. Wenn wir dies von der Schweiz besonders hart empfinden, geschieht das, weil wir glaubten, die Stimme des Blutes würde sich melden, wie dies in der romanischen Schweiz geschehen ist. Es geschah nicht. Will man hierin nicht die größere Staatsklugheit der Schweizer-Deutschen sehen, die in berechtigter Eigenliebe lediglich an ihr Land denken, so bleibt als Erklärung nur, daß das Deutsche Reich sich mit Vor¬ urteilen und Befürchtungen herumschlagen muß, die nüchterner geschichtlicher Prüfung nicht standhalten. Der Historiker, der Politiker, jeder einsichtige Kopf unter den Schweizer-Deutschen wird uns beistimmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/342>, abgerufen am 27.09.2024.