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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Kehren wir zu den gegen¬
wärtigen Verwicklungen zurück.

Als die erbliche Gloster-Bosheit der britischen Staatsmänner Europa im
glorreichen Sommer 1914 in Brand gesteckt hatte, überkam uns wie ein
Hagelwetter die Erkenntnis, daß die Seele der Neutralen uns abgewandt war.
Wir gaben uns redliche Mühe, den Winter dieses Mißvergnügens durch
eine Sintflut von Aufklärungsschriften zu bannen, unermüdlich zu wieder¬
holen, daß nicht Deutschland diesen Krieg entfesselt und gewollt habe.
Das alles ist ziemlich wirkungslos abgeprallt, hat uns mehr geschadet
als genutzt. Die einfachste Überlegung hätte uns sagen müssen, daß der
wasserdichte Schottenschluß der Neutralen uns gegenüber unmöglich seine
Ursache in der unmittelbaren Entstehung dieses Weltkrieges haben konnte.
Das hieße voraussetzen, daß beispielsweise die Schweizer-Deutschen der zwin¬
genden Logik der Tatsachen weniger zugänglich seien, als einer glänzen¬
den und überzeugenden Dialektik. Man weiß in der Schweiz, daß Deutsch¬
land den Krieg nicht gewollt hat, daß es ihn nur aufnahm, um sein
staatliches und nationales Dasein zu behaupten. Ein anderes Kriegsziel hatte
Deutschland nicht, zum Unterschied von Frankreich, dessen leitender Minister die
Eroberung Elsaß-Lothringens als Kriegsziel hinstellt, zum Unterschied von
Rußland, das Galizien und die Dardanellen haben will, zum Unterschied von
England, das Deutschlands weltwirtschaftliche Expansion vernichten muß, um die
Rentnerexistenz der britischen herrschenden Claus behaupten zu können. Noch
weniger kann ein politisch klar denkender Kopf unter den Schweizer-Deutschen,
auch nicht unter den romanischen Schweizern, soweit sie Vernunftgründen
zugänglich sind und in ihrer heimatlichen Landesgeschichte Bescheid wissen,
Deutschland aus der Verletzung der belgischen Neutralität einen Vorwurf machen.
Wir wissen wohl, daß das mannhafte Rechtsgefühl der Eidgenossen in dieser
Hinsicht besonders empfindlich ist. Sie selbst haben ja mit Zorn und Scham
hinnehmen müssen, daß Bonaparte 1797 rücksichtslos die Neutralität der
Schweiz verletzte, in den Wallis einbrach und über die Simplonstraße nach
der Lombardei marschierte. Wer aber Deutschland in dem schwersten Wasser¬
gange der europäischen Geschichte immer und immer wieder das belgische Ereignis
vorhält, vergißt, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Die leitenden Männer Deutsch¬
lands hatten ein Recht, aus Begebenheiten der jüngsten Vergangenheit zu folgern,
daß Frankreich ohne die geringsten Bedenken die luxemburgische und belgische
Neutralität verletzen würde. Auf feierliche Versprechungen der zeitgenössischen
französischen Republik ist wenig zu geben, wie es die Eidgenossen in der
savoyischen Frage erfahren haben. Zudem war Frankreich mit anderen üblen
Beispielen für seine Rücksichtslosigkeit belastet, deren Wiederaufleben Deutschland
aus Sicherheitsgründen mit allen Mitteln verhindern mußte. Denn 1870
verletzte Frankreich doch kurzer Hand die luxemburgische Neutralität, insofern
versprengte französische Truppen von der Armee Bazaines über Luxemburg nach


Deutschland und die Schweiz

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Kehren wir zu den gegen¬
wärtigen Verwicklungen zurück.

Als die erbliche Gloster-Bosheit der britischen Staatsmänner Europa im
glorreichen Sommer 1914 in Brand gesteckt hatte, überkam uns wie ein
Hagelwetter die Erkenntnis, daß die Seele der Neutralen uns abgewandt war.
Wir gaben uns redliche Mühe, den Winter dieses Mißvergnügens durch
eine Sintflut von Aufklärungsschriften zu bannen, unermüdlich zu wieder¬
holen, daß nicht Deutschland diesen Krieg entfesselt und gewollt habe.
Das alles ist ziemlich wirkungslos abgeprallt, hat uns mehr geschadet
als genutzt. Die einfachste Überlegung hätte uns sagen müssen, daß der
wasserdichte Schottenschluß der Neutralen uns gegenüber unmöglich seine
Ursache in der unmittelbaren Entstehung dieses Weltkrieges haben konnte.
Das hieße voraussetzen, daß beispielsweise die Schweizer-Deutschen der zwin¬
genden Logik der Tatsachen weniger zugänglich seien, als einer glänzen¬
den und überzeugenden Dialektik. Man weiß in der Schweiz, daß Deutsch¬
land den Krieg nicht gewollt hat, daß es ihn nur aufnahm, um sein
staatliches und nationales Dasein zu behaupten. Ein anderes Kriegsziel hatte
Deutschland nicht, zum Unterschied von Frankreich, dessen leitender Minister die
Eroberung Elsaß-Lothringens als Kriegsziel hinstellt, zum Unterschied von
Rußland, das Galizien und die Dardanellen haben will, zum Unterschied von
England, das Deutschlands weltwirtschaftliche Expansion vernichten muß, um die
Rentnerexistenz der britischen herrschenden Claus behaupten zu können. Noch
weniger kann ein politisch klar denkender Kopf unter den Schweizer-Deutschen,
auch nicht unter den romanischen Schweizern, soweit sie Vernunftgründen
zugänglich sind und in ihrer heimatlichen Landesgeschichte Bescheid wissen,
Deutschland aus der Verletzung der belgischen Neutralität einen Vorwurf machen.
Wir wissen wohl, daß das mannhafte Rechtsgefühl der Eidgenossen in dieser
Hinsicht besonders empfindlich ist. Sie selbst haben ja mit Zorn und Scham
hinnehmen müssen, daß Bonaparte 1797 rücksichtslos die Neutralität der
Schweiz verletzte, in den Wallis einbrach und über die Simplonstraße nach
der Lombardei marschierte. Wer aber Deutschland in dem schwersten Wasser¬
gange der europäischen Geschichte immer und immer wieder das belgische Ereignis
vorhält, vergißt, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Die leitenden Männer Deutsch¬
lands hatten ein Recht, aus Begebenheiten der jüngsten Vergangenheit zu folgern,
daß Frankreich ohne die geringsten Bedenken die luxemburgische und belgische
Neutralität verletzen würde. Auf feierliche Versprechungen der zeitgenössischen
französischen Republik ist wenig zu geben, wie es die Eidgenossen in der
savoyischen Frage erfahren haben. Zudem war Frankreich mit anderen üblen
Beispielen für seine Rücksichtslosigkeit belastet, deren Wiederaufleben Deutschland
aus Sicherheitsgründen mit allen Mitteln verhindern mußte. Denn 1870
verletzte Frankreich doch kurzer Hand die luxemburgische Neutralität, insofern
versprengte französische Truppen von der Armee Bazaines über Luxemburg nach


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[0337] Deutschland und die Schweiz Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Kehren wir zu den gegen¬ wärtigen Verwicklungen zurück. Als die erbliche Gloster-Bosheit der britischen Staatsmänner Europa im glorreichen Sommer 1914 in Brand gesteckt hatte, überkam uns wie ein Hagelwetter die Erkenntnis, daß die Seele der Neutralen uns abgewandt war. Wir gaben uns redliche Mühe, den Winter dieses Mißvergnügens durch eine Sintflut von Aufklärungsschriften zu bannen, unermüdlich zu wieder¬ holen, daß nicht Deutschland diesen Krieg entfesselt und gewollt habe. Das alles ist ziemlich wirkungslos abgeprallt, hat uns mehr geschadet als genutzt. Die einfachste Überlegung hätte uns sagen müssen, daß der wasserdichte Schottenschluß der Neutralen uns gegenüber unmöglich seine Ursache in der unmittelbaren Entstehung dieses Weltkrieges haben konnte. Das hieße voraussetzen, daß beispielsweise die Schweizer-Deutschen der zwin¬ genden Logik der Tatsachen weniger zugänglich seien, als einer glänzen¬ den und überzeugenden Dialektik. Man weiß in der Schweiz, daß Deutsch¬ land den Krieg nicht gewollt hat, daß es ihn nur aufnahm, um sein staatliches und nationales Dasein zu behaupten. Ein anderes Kriegsziel hatte Deutschland nicht, zum Unterschied von Frankreich, dessen leitender Minister die Eroberung Elsaß-Lothringens als Kriegsziel hinstellt, zum Unterschied von Rußland, das Galizien und die Dardanellen haben will, zum Unterschied von England, das Deutschlands weltwirtschaftliche Expansion vernichten muß, um die Rentnerexistenz der britischen herrschenden Claus behaupten zu können. Noch weniger kann ein politisch klar denkender Kopf unter den Schweizer-Deutschen, auch nicht unter den romanischen Schweizern, soweit sie Vernunftgründen zugänglich sind und in ihrer heimatlichen Landesgeschichte Bescheid wissen, Deutschland aus der Verletzung der belgischen Neutralität einen Vorwurf machen. Wir wissen wohl, daß das mannhafte Rechtsgefühl der Eidgenossen in dieser Hinsicht besonders empfindlich ist. Sie selbst haben ja mit Zorn und Scham hinnehmen müssen, daß Bonaparte 1797 rücksichtslos die Neutralität der Schweiz verletzte, in den Wallis einbrach und über die Simplonstraße nach der Lombardei marschierte. Wer aber Deutschland in dem schwersten Wasser¬ gange der europäischen Geschichte immer und immer wieder das belgische Ereignis vorhält, vergißt, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Die leitenden Männer Deutsch¬ lands hatten ein Recht, aus Begebenheiten der jüngsten Vergangenheit zu folgern, daß Frankreich ohne die geringsten Bedenken die luxemburgische und belgische Neutralität verletzen würde. Auf feierliche Versprechungen der zeitgenössischen französischen Republik ist wenig zu geben, wie es die Eidgenossen in der savoyischen Frage erfahren haben. Zudem war Frankreich mit anderen üblen Beispielen für seine Rücksichtslosigkeit belastet, deren Wiederaufleben Deutschland aus Sicherheitsgründen mit allen Mitteln verhindern mußte. Denn 1870 verletzte Frankreich doch kurzer Hand die luxemburgische Neutralität, insofern versprengte französische Truppen von der Armee Bazaines über Luxemburg nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/337>, abgerufen am 27.09.2024.