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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

Provinzen, besonders Chciblais, haben die Eidgenossen nicht nur alte historische
Rechte; Chablais ist vielmehr aus dem topographischen Aufbau der Schweiz
herausgerissen, so daß eine Ausbuchtung entsteht, die Genf und damit die
Schweiz von dieser Seite her Angriffen leicht zugänglich macht. Erstmals war
die Möglichkeit der Besetzung Savoyens durch die Schweiz 1859 gegeben.
Der Bundesrat unterließ es, dies Recht, das ein Lebensinteresse der Schweiz
war, auszuüben. Infolgedessen trat Piemont unbehindert Savoyen an
Napoleon den Dritten ab, als Lohn für die französische Unterstützung im lom¬
bardischen Kriege. Zwar raffte sich der Bundesrat zu einigen Denkschriften
auf; von diesen Denkschriften sagt I. Schollenberger, der Geschichtsschreiber der
schweizerischen Politik im neunzehnten Jahrhundert: Denkschriften sind über¬
zeugend, soweit es auf das Recht, aber nicht soweit es auf die Macht ankommt.
Auch die diplomatischen Aktionen des Bundesrates hatten keinen Erfolg; nicht einmal
England war für mehr als papierne Sympathien zu haben. So wurde die
Schweiz nach Schollenbergers Urteil von Frankreich 1860 um Savoyen ge-
prellt, unter Verletzung der Wiener Verträge, zu deren Garanten auch England
gehörte, das sich indessen hütete, das Allergeringste für die Schweiz zu
tun. Ganz allein England hätte der Schweiz damals ihre verbrieften Rechte
auf Savoyen sichern können. Und obgleich es dies nicht tat, hat sich
in der Schweiz die Legende zähe eingenistet, das mächtige England habe
den Eidgenossen im neunzehnten Jahrhundert wertvolle politische Dienste
geleistet. Man sah sich durch eine Art Wahlverwandtschaft mit dem "freien
England" verbunden, das zu der gleichen Zeit in Irland seine "friedliche" Durch¬
dringung mit der ewigen Schande der Fenierprozesse abschloß, als es der
Schweiz durch Palmerston in Sachen des Asylrechts das beste Zeugnis ausstellen
ließ. Aber Großbritannien war an der Achtundvierziger Flüchtlingsfrage nicht
interessiert; sicher hätte es sein Wohlwollen in anderer Form zum Ausdruck ge¬
bracht, hätten die Fenier das Asylrecht der Schweiz in Anspruch genommen. Ebenso
wertlos war die Unterstützung Englands im Neuenburger Handel, zumal
Preußen sich mit dem Gewicht vollendeter Tatsachen im öffentlichen Recht ab¬
fand. In der savoyischen Frage dagegen hätte England den Eidgenossen wert¬
volle Dienste leisten können, wenn es nur gewollt und vor der Heiligkeit der
Verträge einige Ehrfurcht besessen hätte.

Dagegen konnte der Bundesrat 1370 die Savoyische Frage in einem der
Schweiz günstigen Sinne zum Abschluß bringen. Das Recht der Besetzung
war nicht verwirkt noch weniger das Interesse. Auch Bismarck hatte gegen
eine Besetzung nichts einzuwenden, unterstützte vielmehr die darauf hinzielenden
Strebungen der Eidgenossen. Allein der Bundesrat wollte aus Zartgefühl für
das Unglück Frankreichs nicht zugreifen. Schollenberger nennt diese Sache zu
stark, um sie zutreffend charakterisieren zu können. Es sei diese Rücksicht auf
die Existenzfrage Frankreichs angesichts der großen Interessen der Schweiz ein
förmlich unerlaubtes Motiv gewesen. Bei Schollenberger, der nur Eidgenosse


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Deutschland und die Schweiz

Provinzen, besonders Chciblais, haben die Eidgenossen nicht nur alte historische
Rechte; Chablais ist vielmehr aus dem topographischen Aufbau der Schweiz
herausgerissen, so daß eine Ausbuchtung entsteht, die Genf und damit die
Schweiz von dieser Seite her Angriffen leicht zugänglich macht. Erstmals war
die Möglichkeit der Besetzung Savoyens durch die Schweiz 1859 gegeben.
Der Bundesrat unterließ es, dies Recht, das ein Lebensinteresse der Schweiz
war, auszuüben. Infolgedessen trat Piemont unbehindert Savoyen an
Napoleon den Dritten ab, als Lohn für die französische Unterstützung im lom¬
bardischen Kriege. Zwar raffte sich der Bundesrat zu einigen Denkschriften
auf; von diesen Denkschriften sagt I. Schollenberger, der Geschichtsschreiber der
schweizerischen Politik im neunzehnten Jahrhundert: Denkschriften sind über¬
zeugend, soweit es auf das Recht, aber nicht soweit es auf die Macht ankommt.
Auch die diplomatischen Aktionen des Bundesrates hatten keinen Erfolg; nicht einmal
England war für mehr als papierne Sympathien zu haben. So wurde die
Schweiz nach Schollenbergers Urteil von Frankreich 1860 um Savoyen ge-
prellt, unter Verletzung der Wiener Verträge, zu deren Garanten auch England
gehörte, das sich indessen hütete, das Allergeringste für die Schweiz zu
tun. Ganz allein England hätte der Schweiz damals ihre verbrieften Rechte
auf Savoyen sichern können. Und obgleich es dies nicht tat, hat sich
in der Schweiz die Legende zähe eingenistet, das mächtige England habe
den Eidgenossen im neunzehnten Jahrhundert wertvolle politische Dienste
geleistet. Man sah sich durch eine Art Wahlverwandtschaft mit dem „freien
England" verbunden, das zu der gleichen Zeit in Irland seine „friedliche" Durch¬
dringung mit der ewigen Schande der Fenierprozesse abschloß, als es der
Schweiz durch Palmerston in Sachen des Asylrechts das beste Zeugnis ausstellen
ließ. Aber Großbritannien war an der Achtundvierziger Flüchtlingsfrage nicht
interessiert; sicher hätte es sein Wohlwollen in anderer Form zum Ausdruck ge¬
bracht, hätten die Fenier das Asylrecht der Schweiz in Anspruch genommen. Ebenso
wertlos war die Unterstützung Englands im Neuenburger Handel, zumal
Preußen sich mit dem Gewicht vollendeter Tatsachen im öffentlichen Recht ab¬
fand. In der savoyischen Frage dagegen hätte England den Eidgenossen wert¬
volle Dienste leisten können, wenn es nur gewollt und vor der Heiligkeit der
Verträge einige Ehrfurcht besessen hätte.

Dagegen konnte der Bundesrat 1370 die Savoyische Frage in einem der
Schweiz günstigen Sinne zum Abschluß bringen. Das Recht der Besetzung
war nicht verwirkt noch weniger das Interesse. Auch Bismarck hatte gegen
eine Besetzung nichts einzuwenden, unterstützte vielmehr die darauf hinzielenden
Strebungen der Eidgenossen. Allein der Bundesrat wollte aus Zartgefühl für
das Unglück Frankreichs nicht zugreifen. Schollenberger nennt diese Sache zu
stark, um sie zutreffend charakterisieren zu können. Es sei diese Rücksicht auf
die Existenzfrage Frankreichs angesichts der großen Interessen der Schweiz ein
förmlich unerlaubtes Motiv gewesen. Bei Schollenberger, der nur Eidgenosse


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[0335] Deutschland und die Schweiz Provinzen, besonders Chciblais, haben die Eidgenossen nicht nur alte historische Rechte; Chablais ist vielmehr aus dem topographischen Aufbau der Schweiz herausgerissen, so daß eine Ausbuchtung entsteht, die Genf und damit die Schweiz von dieser Seite her Angriffen leicht zugänglich macht. Erstmals war die Möglichkeit der Besetzung Savoyens durch die Schweiz 1859 gegeben. Der Bundesrat unterließ es, dies Recht, das ein Lebensinteresse der Schweiz war, auszuüben. Infolgedessen trat Piemont unbehindert Savoyen an Napoleon den Dritten ab, als Lohn für die französische Unterstützung im lom¬ bardischen Kriege. Zwar raffte sich der Bundesrat zu einigen Denkschriften auf; von diesen Denkschriften sagt I. Schollenberger, der Geschichtsschreiber der schweizerischen Politik im neunzehnten Jahrhundert: Denkschriften sind über¬ zeugend, soweit es auf das Recht, aber nicht soweit es auf die Macht ankommt. Auch die diplomatischen Aktionen des Bundesrates hatten keinen Erfolg; nicht einmal England war für mehr als papierne Sympathien zu haben. So wurde die Schweiz nach Schollenbergers Urteil von Frankreich 1860 um Savoyen ge- prellt, unter Verletzung der Wiener Verträge, zu deren Garanten auch England gehörte, das sich indessen hütete, das Allergeringste für die Schweiz zu tun. Ganz allein England hätte der Schweiz damals ihre verbrieften Rechte auf Savoyen sichern können. Und obgleich es dies nicht tat, hat sich in der Schweiz die Legende zähe eingenistet, das mächtige England habe den Eidgenossen im neunzehnten Jahrhundert wertvolle politische Dienste geleistet. Man sah sich durch eine Art Wahlverwandtschaft mit dem „freien England" verbunden, das zu der gleichen Zeit in Irland seine „friedliche" Durch¬ dringung mit der ewigen Schande der Fenierprozesse abschloß, als es der Schweiz durch Palmerston in Sachen des Asylrechts das beste Zeugnis ausstellen ließ. Aber Großbritannien war an der Achtundvierziger Flüchtlingsfrage nicht interessiert; sicher hätte es sein Wohlwollen in anderer Form zum Ausdruck ge¬ bracht, hätten die Fenier das Asylrecht der Schweiz in Anspruch genommen. Ebenso wertlos war die Unterstützung Englands im Neuenburger Handel, zumal Preußen sich mit dem Gewicht vollendeter Tatsachen im öffentlichen Recht ab¬ fand. In der savoyischen Frage dagegen hätte England den Eidgenossen wert¬ volle Dienste leisten können, wenn es nur gewollt und vor der Heiligkeit der Verträge einige Ehrfurcht besessen hätte. Dagegen konnte der Bundesrat 1370 die Savoyische Frage in einem der Schweiz günstigen Sinne zum Abschluß bringen. Das Recht der Besetzung war nicht verwirkt noch weniger das Interesse. Auch Bismarck hatte gegen eine Besetzung nichts einzuwenden, unterstützte vielmehr die darauf hinzielenden Strebungen der Eidgenossen. Allein der Bundesrat wollte aus Zartgefühl für das Unglück Frankreichs nicht zugreifen. Schollenberger nennt diese Sache zu stark, um sie zutreffend charakterisieren zu können. Es sei diese Rücksicht auf die Existenzfrage Frankreichs angesichts der großen Interessen der Schweiz ein förmlich unerlaubtes Motiv gewesen. Bei Schollenberger, der nur Eidgenosse 2l«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/335>, abgerufen am 27.09.2024.