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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Gin "Luropciischcr Staatenbund" ?

Verstehen von Gesprochenem, das Gefühl für Stilfeinheiten und Sprachdumm¬
heiten -- und wie tausend andere Dinge mehr. Meiner Ansicht nach gibt es
daher auch leinen festen Maßstab für die moralische Beurteilung; und ich
glaube, es werden täglich zahllose menschliche Handlungen ausgeführt, deren
sittliche Qualität nicht bloß tatsächlich nicht übereinstimmend beurteilt wird,
sondern auch nie übereinstimmend beurteilt werden könnte, ohne daß hieran
irgendeine Unzulänglichkeit menschlicher Einsicht oder Ehrlichkeit schuld wäre.
Und außerdem sind gerade die wertvollsten produktiven Leistungen des Menschen¬
geistes moralisch indifferent: fast alle großen Kulturwerte sind von einzelnen
geschaffen worden, ohne Rücksicht darauf und ohne Frage danach, ob deren
Schaffung moralisch oder unmoralisch sei, ob die betreffenden Menschen dazu
"verpflichtet" seien oder ihr "Gewissen" sie ihnen gestatte.

Auf wie starken oder schwachen Füßen also die sogenannte Moral stehen
mag, so kann natürlich niemand leugnen, daß es eine gewisse Menge von
sittlichen Geboten und Verboten gibt, die fortwährend von den meisten (aber
nicht allen) Menschen in den meisten (aber nicht allen) Fällen befolgt werden, so daß
sie völlig unentbehrlich sind und tatsächlich "das gesellschaftliche Leben der einzelnen
Nationen beherrschen." Aber eine unbedingte Voraussetzung hierfür scheint mir zu
sein, daß den Menschen durch eine lange und mühevolle Erziehung ein Befolgen von
sittlichen Geboten und Verboten angewöhnt wird. Alle ursprünglichen und echten
Neigungen und Tendenzen des Menschen find egoistisch (im weitesten Sinne!),
und die Erziehung kann nichts anderes tun, als durch ein unablässiges Gegen-
einander-Spielen-Lassen egoistischer Motive ein sogenanntes altruistisches Handeln,
das heißt im wesentlichen ein Hemmen und Unterdrücken egoistischen Handelns
herbeizuführen. Was dem erwachsenen Menschen sein klares Bewußtsein über
den Ursprung seiner Handlungen sagt, ist ganz irrelevant; es sagt ihm oft das
gerade Gegenteil von dem, was ihn in Wirklichkeit bewegt und geleitet hat,
und dies ist kein Zufall, sondern sehr wohl begründet, da die Menschen ein¬
fach zu bedauern wären, wenn sie sich völlig durchschauten. Zu einem
ihm im allgemeinen ganz selbstverständlich erscheinenden "moralischen" Handeln
gelangt also der Mensch auf demselben Wege, auf dem er etwa zum
Ausführen bestimmter religiöser Kulthandlungen, zum Befolgen bestimmter
Grammattkregeln oder zur Beherrschung irgendwelcher sonstiger Fertigkeiten
gelangt, nämlich durch Anweisung, Beispiel, Hilfe und Zwang, kurz: durch
Erziehung.

Nun ist klar, daß diese Entstehungsbedingungen für eine Moral uuter
den Staaten nicht gegeben sind. Wenn ein Staat nicht bloß die Summe
der in ihm lebenden Menschen sein soll, sondern eine Einheit, eine Art Gesamt¬
person, so ist es meiner Ansicht nach durchaus nicht einleuchtend, daß für das
gegenseitige Verhältnis dieser Gesamtpersonen dieselben "moralischen" Regeln
gelten müssen wie für das der Einzelpersonen innerhalb ein und desselben
Staates. Der einzelne Deutsche zum Betspiel wird sich im allgemeinen gegen


Gin „Luropciischcr Staatenbund" ?

Verstehen von Gesprochenem, das Gefühl für Stilfeinheiten und Sprachdumm¬
heiten — und wie tausend andere Dinge mehr. Meiner Ansicht nach gibt es
daher auch leinen festen Maßstab für die moralische Beurteilung; und ich
glaube, es werden täglich zahllose menschliche Handlungen ausgeführt, deren
sittliche Qualität nicht bloß tatsächlich nicht übereinstimmend beurteilt wird,
sondern auch nie übereinstimmend beurteilt werden könnte, ohne daß hieran
irgendeine Unzulänglichkeit menschlicher Einsicht oder Ehrlichkeit schuld wäre.
Und außerdem sind gerade die wertvollsten produktiven Leistungen des Menschen¬
geistes moralisch indifferent: fast alle großen Kulturwerte sind von einzelnen
geschaffen worden, ohne Rücksicht darauf und ohne Frage danach, ob deren
Schaffung moralisch oder unmoralisch sei, ob die betreffenden Menschen dazu
„verpflichtet" seien oder ihr „Gewissen" sie ihnen gestatte.

Auf wie starken oder schwachen Füßen also die sogenannte Moral stehen
mag, so kann natürlich niemand leugnen, daß es eine gewisse Menge von
sittlichen Geboten und Verboten gibt, die fortwährend von den meisten (aber
nicht allen) Menschen in den meisten (aber nicht allen) Fällen befolgt werden, so daß
sie völlig unentbehrlich sind und tatsächlich „das gesellschaftliche Leben der einzelnen
Nationen beherrschen." Aber eine unbedingte Voraussetzung hierfür scheint mir zu
sein, daß den Menschen durch eine lange und mühevolle Erziehung ein Befolgen von
sittlichen Geboten und Verboten angewöhnt wird. Alle ursprünglichen und echten
Neigungen und Tendenzen des Menschen find egoistisch (im weitesten Sinne!),
und die Erziehung kann nichts anderes tun, als durch ein unablässiges Gegen-
einander-Spielen-Lassen egoistischer Motive ein sogenanntes altruistisches Handeln,
das heißt im wesentlichen ein Hemmen und Unterdrücken egoistischen Handelns
herbeizuführen. Was dem erwachsenen Menschen sein klares Bewußtsein über
den Ursprung seiner Handlungen sagt, ist ganz irrelevant; es sagt ihm oft das
gerade Gegenteil von dem, was ihn in Wirklichkeit bewegt und geleitet hat,
und dies ist kein Zufall, sondern sehr wohl begründet, da die Menschen ein¬
fach zu bedauern wären, wenn sie sich völlig durchschauten. Zu einem
ihm im allgemeinen ganz selbstverständlich erscheinenden „moralischen" Handeln
gelangt also der Mensch auf demselben Wege, auf dem er etwa zum
Ausführen bestimmter religiöser Kulthandlungen, zum Befolgen bestimmter
Grammattkregeln oder zur Beherrschung irgendwelcher sonstiger Fertigkeiten
gelangt, nämlich durch Anweisung, Beispiel, Hilfe und Zwang, kurz: durch
Erziehung.

Nun ist klar, daß diese Entstehungsbedingungen für eine Moral uuter
den Staaten nicht gegeben sind. Wenn ein Staat nicht bloß die Summe
der in ihm lebenden Menschen sein soll, sondern eine Einheit, eine Art Gesamt¬
person, so ist es meiner Ansicht nach durchaus nicht einleuchtend, daß für das
gegenseitige Verhältnis dieser Gesamtpersonen dieselben „moralischen" Regeln
gelten müssen wie für das der Einzelpersonen innerhalb ein und desselben
Staates. Der einzelne Deutsche zum Betspiel wird sich im allgemeinen gegen


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[0279] Gin „Luropciischcr Staatenbund" ? Verstehen von Gesprochenem, das Gefühl für Stilfeinheiten und Sprachdumm¬ heiten — und wie tausend andere Dinge mehr. Meiner Ansicht nach gibt es daher auch leinen festen Maßstab für die moralische Beurteilung; und ich glaube, es werden täglich zahllose menschliche Handlungen ausgeführt, deren sittliche Qualität nicht bloß tatsächlich nicht übereinstimmend beurteilt wird, sondern auch nie übereinstimmend beurteilt werden könnte, ohne daß hieran irgendeine Unzulänglichkeit menschlicher Einsicht oder Ehrlichkeit schuld wäre. Und außerdem sind gerade die wertvollsten produktiven Leistungen des Menschen¬ geistes moralisch indifferent: fast alle großen Kulturwerte sind von einzelnen geschaffen worden, ohne Rücksicht darauf und ohne Frage danach, ob deren Schaffung moralisch oder unmoralisch sei, ob die betreffenden Menschen dazu „verpflichtet" seien oder ihr „Gewissen" sie ihnen gestatte. Auf wie starken oder schwachen Füßen also die sogenannte Moral stehen mag, so kann natürlich niemand leugnen, daß es eine gewisse Menge von sittlichen Geboten und Verboten gibt, die fortwährend von den meisten (aber nicht allen) Menschen in den meisten (aber nicht allen) Fällen befolgt werden, so daß sie völlig unentbehrlich sind und tatsächlich „das gesellschaftliche Leben der einzelnen Nationen beherrschen." Aber eine unbedingte Voraussetzung hierfür scheint mir zu sein, daß den Menschen durch eine lange und mühevolle Erziehung ein Befolgen von sittlichen Geboten und Verboten angewöhnt wird. Alle ursprünglichen und echten Neigungen und Tendenzen des Menschen find egoistisch (im weitesten Sinne!), und die Erziehung kann nichts anderes tun, als durch ein unablässiges Gegen- einander-Spielen-Lassen egoistischer Motive ein sogenanntes altruistisches Handeln, das heißt im wesentlichen ein Hemmen und Unterdrücken egoistischen Handelns herbeizuführen. Was dem erwachsenen Menschen sein klares Bewußtsein über den Ursprung seiner Handlungen sagt, ist ganz irrelevant; es sagt ihm oft das gerade Gegenteil von dem, was ihn in Wirklichkeit bewegt und geleitet hat, und dies ist kein Zufall, sondern sehr wohl begründet, da die Menschen ein¬ fach zu bedauern wären, wenn sie sich völlig durchschauten. Zu einem ihm im allgemeinen ganz selbstverständlich erscheinenden „moralischen" Handeln gelangt also der Mensch auf demselben Wege, auf dem er etwa zum Ausführen bestimmter religiöser Kulthandlungen, zum Befolgen bestimmter Grammattkregeln oder zur Beherrschung irgendwelcher sonstiger Fertigkeiten gelangt, nämlich durch Anweisung, Beispiel, Hilfe und Zwang, kurz: durch Erziehung. Nun ist klar, daß diese Entstehungsbedingungen für eine Moral uuter den Staaten nicht gegeben sind. Wenn ein Staat nicht bloß die Summe der in ihm lebenden Menschen sein soll, sondern eine Einheit, eine Art Gesamt¬ person, so ist es meiner Ansicht nach durchaus nicht einleuchtend, daß für das gegenseitige Verhältnis dieser Gesamtpersonen dieselben „moralischen" Regeln gelten müssen wie für das der Einzelpersonen innerhalb ein und desselben Staates. Der einzelne Deutsche zum Betspiel wird sich im allgemeinen gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/279>, abgerufen am 27.09.2024.