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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Sir Roger Lasement

in der Tat gelungen ist, Irland und seine Bedeutung vor den Augen Europas
zu verbergen, und die Legende von der armen Insel und der niedern Kultur
ihrer Bewohner allen Tatsachen der Geschichte und des Augenscheins zum Trotz
in Umlauf und dauernde Geltung zu bringen. Die Machthaber an der Themse
wissen es zu genau und wußten es von je, daß auf den Tag der Entdeckung
Irlands durch Europa der Tag des Unterganges folgen würde mit derselben
Sicherheit, mit der die Sonne auf und untergeht.

Das Angelsachsentum hatte seinen Tag in der Geschichte. Wir sprachen
von dem nationalen Egoismus, der über den Kalvinismus zum Imperialismus
hinüberführt. Wir mögen aber auch sagen, der germanische Individualismus
habe durch den Kalvinismus eine religiöse Begründung und Vertiefung erfahren
und sei in den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Einrichtungen zur
Entfaltung gelangt, in denen die eigentümliche Kulturleistung der Angelsachsen
sich darstellt, die uns unverlierbar bleiben soll. Beide Behauptungen gelten,
und wenn wir sie gegeneinander prüfen, erscheint der Kalvinismus als der
Drehpunkt, von dem aus verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten gegeben waren.
Durch den schillernden Puritantsmus wird die Eigentümlichkeit der geschicht¬
lichen Station reflektiert. Hier ward die Religion durch die Politik und die
Politik durch die Religion verdorben. Die Unwahrhaftigkeit begann ihr Reich
aufzurichten. Anderseits aber ward auch von hier die Idee der Gerechtigkeit gestaltend
wirksam. Statt von den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Ein¬
richtungen einerseits und dem Imperialismus anderseits zu reden, in denen die beiden
im Kalvinismus sich kreuzenden Entwicklungslinien enden, mögen wir auch
sagen, es handle sich hier um den Gegensatz der inneren und der äußeren
Politik, um den Unterschied in der Behandlung der "Kinder des Hauses" und
der "Fremden". Während wir der englischen Leistung auf dem Gebiete der
inneren Politik unsere Schätzung nie versagen werden, verlangt unsere Selbst¬
achtung und Selbsterhaltung, daß wir alle Mittel unserer geistigen, sittlichen,
ökonomischen und militärischen Macht einsetzen, um die äußere Politik
Englands, um das Imperium, das angelsächsische Weltjoch, das den Kanaanitern
auf den Nacken gelegt ist, zu zerbrechen. Es ist dies eine Tat von ethischer
und weltgeschichtlicher Notwendigkeit, die sittlich-politische Aufgabe unserer
Nation, der wir uns nicht entziehen können, wie groß auch das Blut¬
opfer ist.

Wir mögen mit Frankreich und Rußland so oder anders fertig werden;
in dem Kampfe mit unserem größten Feinde müssen wir bis zum letzten Ende
gehen, bitter oder nicht bitter. Gegen die äußeren Notwendigkeiten, die dort
bestimmend sind, und zu denen man sich in verschiedener Art verhalten mag,
erheben sich hier innere Notwendigkeiten, die uns zwingen. Wir sind nicht frei
dies oder jenes zu tun, wo eine Pflicht aus dem Innern des Lebens gebieterisch
uns entgegentritt, wo Wesen und Wahrhaftigkeit den Ritterdienst fordern.
Hundertmal nichtswürdig wären wir als Nation, wollten wir hier wanken und


Sir Roger Lasement

in der Tat gelungen ist, Irland und seine Bedeutung vor den Augen Europas
zu verbergen, und die Legende von der armen Insel und der niedern Kultur
ihrer Bewohner allen Tatsachen der Geschichte und des Augenscheins zum Trotz
in Umlauf und dauernde Geltung zu bringen. Die Machthaber an der Themse
wissen es zu genau und wußten es von je, daß auf den Tag der Entdeckung
Irlands durch Europa der Tag des Unterganges folgen würde mit derselben
Sicherheit, mit der die Sonne auf und untergeht.

Das Angelsachsentum hatte seinen Tag in der Geschichte. Wir sprachen
von dem nationalen Egoismus, der über den Kalvinismus zum Imperialismus
hinüberführt. Wir mögen aber auch sagen, der germanische Individualismus
habe durch den Kalvinismus eine religiöse Begründung und Vertiefung erfahren
und sei in den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Einrichtungen zur
Entfaltung gelangt, in denen die eigentümliche Kulturleistung der Angelsachsen
sich darstellt, die uns unverlierbar bleiben soll. Beide Behauptungen gelten,
und wenn wir sie gegeneinander prüfen, erscheint der Kalvinismus als der
Drehpunkt, von dem aus verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten gegeben waren.
Durch den schillernden Puritantsmus wird die Eigentümlichkeit der geschicht¬
lichen Station reflektiert. Hier ward die Religion durch die Politik und die
Politik durch die Religion verdorben. Die Unwahrhaftigkeit begann ihr Reich
aufzurichten. Anderseits aber ward auch von hier die Idee der Gerechtigkeit gestaltend
wirksam. Statt von den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Ein¬
richtungen einerseits und dem Imperialismus anderseits zu reden, in denen die beiden
im Kalvinismus sich kreuzenden Entwicklungslinien enden, mögen wir auch
sagen, es handle sich hier um den Gegensatz der inneren und der äußeren
Politik, um den Unterschied in der Behandlung der „Kinder des Hauses" und
der „Fremden". Während wir der englischen Leistung auf dem Gebiete der
inneren Politik unsere Schätzung nie versagen werden, verlangt unsere Selbst¬
achtung und Selbsterhaltung, daß wir alle Mittel unserer geistigen, sittlichen,
ökonomischen und militärischen Macht einsetzen, um die äußere Politik
Englands, um das Imperium, das angelsächsische Weltjoch, das den Kanaanitern
auf den Nacken gelegt ist, zu zerbrechen. Es ist dies eine Tat von ethischer
und weltgeschichtlicher Notwendigkeit, die sittlich-politische Aufgabe unserer
Nation, der wir uns nicht entziehen können, wie groß auch das Blut¬
opfer ist.

Wir mögen mit Frankreich und Rußland so oder anders fertig werden;
in dem Kampfe mit unserem größten Feinde müssen wir bis zum letzten Ende
gehen, bitter oder nicht bitter. Gegen die äußeren Notwendigkeiten, die dort
bestimmend sind, und zu denen man sich in verschiedener Art verhalten mag,
erheben sich hier innere Notwendigkeiten, die uns zwingen. Wir sind nicht frei
dies oder jenes zu tun, wo eine Pflicht aus dem Innern des Lebens gebieterisch
uns entgegentritt, wo Wesen und Wahrhaftigkeit den Ritterdienst fordern.
Hundertmal nichtswürdig wären wir als Nation, wollten wir hier wanken und


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[0259] Sir Roger Lasement in der Tat gelungen ist, Irland und seine Bedeutung vor den Augen Europas zu verbergen, und die Legende von der armen Insel und der niedern Kultur ihrer Bewohner allen Tatsachen der Geschichte und des Augenscheins zum Trotz in Umlauf und dauernde Geltung zu bringen. Die Machthaber an der Themse wissen es zu genau und wußten es von je, daß auf den Tag der Entdeckung Irlands durch Europa der Tag des Unterganges folgen würde mit derselben Sicherheit, mit der die Sonne auf und untergeht. Das Angelsachsentum hatte seinen Tag in der Geschichte. Wir sprachen von dem nationalen Egoismus, der über den Kalvinismus zum Imperialismus hinüberführt. Wir mögen aber auch sagen, der germanische Individualismus habe durch den Kalvinismus eine religiöse Begründung und Vertiefung erfahren und sei in den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Einrichtungen zur Entfaltung gelangt, in denen die eigentümliche Kulturleistung der Angelsachsen sich darstellt, die uns unverlierbar bleiben soll. Beide Behauptungen gelten, und wenn wir sie gegeneinander prüfen, erscheint der Kalvinismus als der Drehpunkt, von dem aus verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten gegeben waren. Durch den schillernden Puritantsmus wird die Eigentümlichkeit der geschicht¬ lichen Station reflektiert. Hier ward die Religion durch die Politik und die Politik durch die Religion verdorben. Die Unwahrhaftigkeit begann ihr Reich aufzurichten. Anderseits aber ward auch von hier die Idee der Gerechtigkeit gestaltend wirksam. Statt von den freiheitlichen Überzeugungen und politischen Ein¬ richtungen einerseits und dem Imperialismus anderseits zu reden, in denen die beiden im Kalvinismus sich kreuzenden Entwicklungslinien enden, mögen wir auch sagen, es handle sich hier um den Gegensatz der inneren und der äußeren Politik, um den Unterschied in der Behandlung der „Kinder des Hauses" und der „Fremden". Während wir der englischen Leistung auf dem Gebiete der inneren Politik unsere Schätzung nie versagen werden, verlangt unsere Selbst¬ achtung und Selbsterhaltung, daß wir alle Mittel unserer geistigen, sittlichen, ökonomischen und militärischen Macht einsetzen, um die äußere Politik Englands, um das Imperium, das angelsächsische Weltjoch, das den Kanaanitern auf den Nacken gelegt ist, zu zerbrechen. Es ist dies eine Tat von ethischer und weltgeschichtlicher Notwendigkeit, die sittlich-politische Aufgabe unserer Nation, der wir uns nicht entziehen können, wie groß auch das Blut¬ opfer ist. Wir mögen mit Frankreich und Rußland so oder anders fertig werden; in dem Kampfe mit unserem größten Feinde müssen wir bis zum letzten Ende gehen, bitter oder nicht bitter. Gegen die äußeren Notwendigkeiten, die dort bestimmend sind, und zu denen man sich in verschiedener Art verhalten mag, erheben sich hier innere Notwendigkeiten, die uns zwingen. Wir sind nicht frei dies oder jenes zu tun, wo eine Pflicht aus dem Innern des Lebens gebieterisch uns entgegentritt, wo Wesen und Wahrhaftigkeit den Ritterdienst fordern. Hundertmal nichtswürdig wären wir als Nation, wollten wir hier wanken und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/259>, abgerufen am 27.09.2024.