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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Draht- und Nagelfabriken, Brennereien und Brauereien, Tabak- und Baum¬
wollfabriken, Mühlen, Gerbereien und anderes mehr. Die Landwirtschaft steht
nicht überall gleich: Suwalki geht voran, es folgt Kowno. dann erst Wilna.
Seit der Revolution 1905 ist allgemein eine freiere Entwicklung auch im wirt¬
schaftlichen Leben zu konstatieren: etwa hundert Konsumvereine, eine größere
Anzahl landwirtschaftlicher und sonstiger Berufsvereine haben sich gebildet; es
finden landwirtschaftliche Ausstellungen mit Prämiierungen statt, zwei Aktien¬
gesellschaften für den Vertrieb moderner landwirtschaftlicher Maschinen haben
sich aufgetan, eine vielseitige Presse belehrt das Volk über intensive Wirtschafts¬
führung und Schaffung neuer Erwerbszweige; ein neues hoffnungsfrcudiges
wirtschaftliches Leben ist im Aufblühen begriffen. Der Boden ist zum größten
Teil fruchtbar und ertragreich. Leider sind viele Güter, die sich in polnischen
und russischen Händen befinden, infolge Saumseligkeit und schlechter Wirtschafts¬
führung der Besitzer stark verschuldet und vernachlässigt; sie können kein
Vorbild für die Bauern bieten. Unter einer fürsorglichen und weit¬
schauenden Regierung würde Litauen bald ein blühendes Land mit wohl¬
habender Bevölkerung werden; denn das Volk ist fleißig und äußerst bildungs¬
fähig.

Ein etwas unerfreuliches Element unter der litauischen Bevölkerung bildet
die Judenschaft, die in den kleineren Städten den größeren Teil der Bewohner¬
schaft bildet. Die russische Negierung hat den Juden nur in den westlichen
Gouvernements dauernden Aufenthalt gestattet und auch da nur in den Städten.
Jedoch durch schlaue Umgehung der behördlichen Bestimmungen bringen es die
Juden fertig, ihr Wesen auf dem platten Lande ungestört zu treiben. Schon
seit der Herrschaft Mindowes (im dreizehnten Jahrhundert) haben Juden sich
in beträchtlicher Anzahl in Litauen festgesetzt und sind als kulturfördernder
Faktor in Handel und Gewerbe bis in die Gegenwart tätig gewesen. Doch ist
die ländliche Bevölkerung durch sie anderseits wirtschaftlich und kulturell aufgehalten
worden, insofern als die meisten Erwerbszweige, abgesehen von der Landwirt¬
schaft, von den Juden allein in Beschlag genommen waren und die Land¬
bevölkerung hiervon völlig ausgeschaltet blieb. Durch Verleitung zur Trunksucht,
durch listige Bewucherung der litauischen Bauern, haben Juden nicht wenig zur
Verarmung der Bauernschaft beigetragen. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch
eine allgemeine Emanzipation von der Bevormundung durch die Juden im
Handel unter der litauischen (und auch der polnischen) Bevölkerung eingesetzt.
Es geht den Juden nicht mehr gut; viele verarmen, weil die Litauer selber
den Handel in die Hände genommen, Fabriken angelegt, Konsum- und Dar-
lehnskassenvereine zur Blüte gebracht haben. Vielen Juden bleibt nichts übrig,
als nach Amerika, oder, wie es in letzter Zeit öfter geschieht, nach Südafrika
auszuwandern. Immerhin sind die Juden durch den Handel und eine gewisse
Bildung noch recht einflußreich. Mit Deutschland stehen sie in lebhaftem Verkehr;
der bedeutende Holz- und Flachsexport geht ausschließlich durch ihre Hand,


Die litauisch-baltische Frage

Draht- und Nagelfabriken, Brennereien und Brauereien, Tabak- und Baum¬
wollfabriken, Mühlen, Gerbereien und anderes mehr. Die Landwirtschaft steht
nicht überall gleich: Suwalki geht voran, es folgt Kowno. dann erst Wilna.
Seit der Revolution 1905 ist allgemein eine freiere Entwicklung auch im wirt¬
schaftlichen Leben zu konstatieren: etwa hundert Konsumvereine, eine größere
Anzahl landwirtschaftlicher und sonstiger Berufsvereine haben sich gebildet; es
finden landwirtschaftliche Ausstellungen mit Prämiierungen statt, zwei Aktien¬
gesellschaften für den Vertrieb moderner landwirtschaftlicher Maschinen haben
sich aufgetan, eine vielseitige Presse belehrt das Volk über intensive Wirtschafts¬
führung und Schaffung neuer Erwerbszweige; ein neues hoffnungsfrcudiges
wirtschaftliches Leben ist im Aufblühen begriffen. Der Boden ist zum größten
Teil fruchtbar und ertragreich. Leider sind viele Güter, die sich in polnischen
und russischen Händen befinden, infolge Saumseligkeit und schlechter Wirtschafts¬
führung der Besitzer stark verschuldet und vernachlässigt; sie können kein
Vorbild für die Bauern bieten. Unter einer fürsorglichen und weit¬
schauenden Regierung würde Litauen bald ein blühendes Land mit wohl¬
habender Bevölkerung werden; denn das Volk ist fleißig und äußerst bildungs¬
fähig.

Ein etwas unerfreuliches Element unter der litauischen Bevölkerung bildet
die Judenschaft, die in den kleineren Städten den größeren Teil der Bewohner¬
schaft bildet. Die russische Negierung hat den Juden nur in den westlichen
Gouvernements dauernden Aufenthalt gestattet und auch da nur in den Städten.
Jedoch durch schlaue Umgehung der behördlichen Bestimmungen bringen es die
Juden fertig, ihr Wesen auf dem platten Lande ungestört zu treiben. Schon
seit der Herrschaft Mindowes (im dreizehnten Jahrhundert) haben Juden sich
in beträchtlicher Anzahl in Litauen festgesetzt und sind als kulturfördernder
Faktor in Handel und Gewerbe bis in die Gegenwart tätig gewesen. Doch ist
die ländliche Bevölkerung durch sie anderseits wirtschaftlich und kulturell aufgehalten
worden, insofern als die meisten Erwerbszweige, abgesehen von der Landwirt¬
schaft, von den Juden allein in Beschlag genommen waren und die Land¬
bevölkerung hiervon völlig ausgeschaltet blieb. Durch Verleitung zur Trunksucht,
durch listige Bewucherung der litauischen Bauern, haben Juden nicht wenig zur
Verarmung der Bauernschaft beigetragen. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch
eine allgemeine Emanzipation von der Bevormundung durch die Juden im
Handel unter der litauischen (und auch der polnischen) Bevölkerung eingesetzt.
Es geht den Juden nicht mehr gut; viele verarmen, weil die Litauer selber
den Handel in die Hände genommen, Fabriken angelegt, Konsum- und Dar-
lehnskassenvereine zur Blüte gebracht haben. Vielen Juden bleibt nichts übrig,
als nach Amerika, oder, wie es in letzter Zeit öfter geschieht, nach Südafrika
auszuwandern. Immerhin sind die Juden durch den Handel und eine gewisse
Bildung noch recht einflußreich. Mit Deutschland stehen sie in lebhaftem Verkehr;
der bedeutende Holz- und Flachsexport geht ausschließlich durch ihre Hand,


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[0245] Die litauisch-baltische Frage Draht- und Nagelfabriken, Brennereien und Brauereien, Tabak- und Baum¬ wollfabriken, Mühlen, Gerbereien und anderes mehr. Die Landwirtschaft steht nicht überall gleich: Suwalki geht voran, es folgt Kowno. dann erst Wilna. Seit der Revolution 1905 ist allgemein eine freiere Entwicklung auch im wirt¬ schaftlichen Leben zu konstatieren: etwa hundert Konsumvereine, eine größere Anzahl landwirtschaftlicher und sonstiger Berufsvereine haben sich gebildet; es finden landwirtschaftliche Ausstellungen mit Prämiierungen statt, zwei Aktien¬ gesellschaften für den Vertrieb moderner landwirtschaftlicher Maschinen haben sich aufgetan, eine vielseitige Presse belehrt das Volk über intensive Wirtschafts¬ führung und Schaffung neuer Erwerbszweige; ein neues hoffnungsfrcudiges wirtschaftliches Leben ist im Aufblühen begriffen. Der Boden ist zum größten Teil fruchtbar und ertragreich. Leider sind viele Güter, die sich in polnischen und russischen Händen befinden, infolge Saumseligkeit und schlechter Wirtschafts¬ führung der Besitzer stark verschuldet und vernachlässigt; sie können kein Vorbild für die Bauern bieten. Unter einer fürsorglichen und weit¬ schauenden Regierung würde Litauen bald ein blühendes Land mit wohl¬ habender Bevölkerung werden; denn das Volk ist fleißig und äußerst bildungs¬ fähig. Ein etwas unerfreuliches Element unter der litauischen Bevölkerung bildet die Judenschaft, die in den kleineren Städten den größeren Teil der Bewohner¬ schaft bildet. Die russische Negierung hat den Juden nur in den westlichen Gouvernements dauernden Aufenthalt gestattet und auch da nur in den Städten. Jedoch durch schlaue Umgehung der behördlichen Bestimmungen bringen es die Juden fertig, ihr Wesen auf dem platten Lande ungestört zu treiben. Schon seit der Herrschaft Mindowes (im dreizehnten Jahrhundert) haben Juden sich in beträchtlicher Anzahl in Litauen festgesetzt und sind als kulturfördernder Faktor in Handel und Gewerbe bis in die Gegenwart tätig gewesen. Doch ist die ländliche Bevölkerung durch sie anderseits wirtschaftlich und kulturell aufgehalten worden, insofern als die meisten Erwerbszweige, abgesehen von der Landwirt¬ schaft, von den Juden allein in Beschlag genommen waren und die Land¬ bevölkerung hiervon völlig ausgeschaltet blieb. Durch Verleitung zur Trunksucht, durch listige Bewucherung der litauischen Bauern, haben Juden nicht wenig zur Verarmung der Bauernschaft beigetragen. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch eine allgemeine Emanzipation von der Bevormundung durch die Juden im Handel unter der litauischen (und auch der polnischen) Bevölkerung eingesetzt. Es geht den Juden nicht mehr gut; viele verarmen, weil die Litauer selber den Handel in die Hände genommen, Fabriken angelegt, Konsum- und Dar- lehnskassenvereine zur Blüte gebracht haben. Vielen Juden bleibt nichts übrig, als nach Amerika, oder, wie es in letzter Zeit öfter geschieht, nach Südafrika auszuwandern. Immerhin sind die Juden durch den Handel und eine gewisse Bildung noch recht einflußreich. Mit Deutschland stehen sie in lebhaftem Verkehr; der bedeutende Holz- und Flachsexport geht ausschließlich durch ihre Hand,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/245>, abgerufen am 27.09.2024.