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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Diese Zahlen stammen aus zweiter Quelle und enthalten zweifellos einige
Druckfehler, bieten aber ein richtiges Gesamtbild.

Das großlitauische Volk besitzt eifriges Streben nach Bildung. In dieser
Beziehung steht es zum Teil wohl über den preußischen Litauern. Auch wenig
begüterte Bauern bemühen sich, wenigstens einen Sohn auf das Gymnasium zu
schicken, zunächst mit dem Ziel, ihn einst als Geistlichen im priesterlichen Gewände
zu sehen. Daher kommt es, daß die gesamte Geistlichkeit in Litauen mitsamt
den Bischöfen rein litauisch ist und jetzt auch litauisch fühlt und sich in litauisch¬
nationalem Sinne betätigt. Aber viele Gymnasiasten ziehen es vor, statt in
das Priester semin ar zu treten, das Gymnasium bis zur Maturität zu durch¬
laufen, um später nach absolvierten Studium als Mediziner, Advokaten oder
Philologen ihrem Volke zu dienen. In letzter Zeit haben sich manche auch
dem Bankwesen zugewandt, einem Zweige, der, wie der Handel, bis dahin
keine Vorliebe bei den Litauern gefunden hatte.

Besonders deutlich zeigt sich das Streben der Litauer nach Kultur und
sozialer Selbsthilfe im Vereinsleben. Die litauische wissenschaftliche Vereinigung
in Wilna zählt fast alle gebildeten Litauer zu ihren Mitglieder; sie besitzt ein
Museum für Volkskunde und eine wertvolle Bibliothek. Der litauische Kunst-
verein veranstaltet alljährlich Kunstausstellungen und besitzt ebenfalls ein Kunst¬
museum. Drei große Volksbildungsvereinigungen arbeiten mit hundertunddreißig
Zweigvereinen an der kulturellen Hebung des Volkes. Zwei Vereine sorgen
für Unterstützung bedürftiger Studenten; sechs Genossenschaften und Aktien¬
gesellschaften bezwecken die Herausgabe von Büchern und Zeitschriften. Auch
besitzen die Litauer Arbeiter-, Frauen-, Theater- und ähnliche Vereine. All¬
jährlich werden hier und dort etwa zweihundertundfünfzig Theateraufführungen
veranstaltet. Die Temperenzoereinigungen haben etwa dreißigtausend Mitglieder.

Im allgemeinen ist höhere Bildung unter den Litauern etwas weniger
verbreitet, als unter den Letten, welch letztere schon seit Jahrzehnten völlig
selbständig für ihre eigenen kulturellen Bedürfnisse zu sorgen in der Lage waren.
Am wenigsten sind die Ostlitauer in kultureller und nationaler Beziehung vor¬
wärtsgekommen. Sie stehen zu sehr unter polnischem und weißrussischem Einfluß,
der sie in jeder Weiterentwicklung hemmt. Insonderheit haben die Polen, sogar
mit roher Gewalt und an geweihter Stelle, wiederholt jede Regung litauischen
Lebens, jeden Gebrauch titanischer Sprache urd Sitte zu verhindern gesucht.
Doch erringt der Polonismus dort gegenwärtig weiter keine Erfolge, weicht
vielmehr zurück, besonders seitdem einige litauische Vereine die kulturelle Hebung
Ostlitauens sich angelegen sein lassen.

In wirtschaftlicher Hinsicht kann Litauen nicht gerade als ein sonderlich
produktives Land angesehen werden. Bodenschätze gibt es wenige. Getreide-
und Flachsbau, Viehzucht und Waldwirtschaft sind die hauptsächlichsten Erwerbs¬
zweige der Bevölkerung. Doch finden sich in größeren Orten, wie Wilna,
Kowno, schauten und anderen verschiedene Fabriken, namentlich Eisengießereien,


Die litauisch-baltische Frage

Diese Zahlen stammen aus zweiter Quelle und enthalten zweifellos einige
Druckfehler, bieten aber ein richtiges Gesamtbild.

Das großlitauische Volk besitzt eifriges Streben nach Bildung. In dieser
Beziehung steht es zum Teil wohl über den preußischen Litauern. Auch wenig
begüterte Bauern bemühen sich, wenigstens einen Sohn auf das Gymnasium zu
schicken, zunächst mit dem Ziel, ihn einst als Geistlichen im priesterlichen Gewände
zu sehen. Daher kommt es, daß die gesamte Geistlichkeit in Litauen mitsamt
den Bischöfen rein litauisch ist und jetzt auch litauisch fühlt und sich in litauisch¬
nationalem Sinne betätigt. Aber viele Gymnasiasten ziehen es vor, statt in
das Priester semin ar zu treten, das Gymnasium bis zur Maturität zu durch¬
laufen, um später nach absolvierten Studium als Mediziner, Advokaten oder
Philologen ihrem Volke zu dienen. In letzter Zeit haben sich manche auch
dem Bankwesen zugewandt, einem Zweige, der, wie der Handel, bis dahin
keine Vorliebe bei den Litauern gefunden hatte.

Besonders deutlich zeigt sich das Streben der Litauer nach Kultur und
sozialer Selbsthilfe im Vereinsleben. Die litauische wissenschaftliche Vereinigung
in Wilna zählt fast alle gebildeten Litauer zu ihren Mitglieder; sie besitzt ein
Museum für Volkskunde und eine wertvolle Bibliothek. Der litauische Kunst-
verein veranstaltet alljährlich Kunstausstellungen und besitzt ebenfalls ein Kunst¬
museum. Drei große Volksbildungsvereinigungen arbeiten mit hundertunddreißig
Zweigvereinen an der kulturellen Hebung des Volkes. Zwei Vereine sorgen
für Unterstützung bedürftiger Studenten; sechs Genossenschaften und Aktien¬
gesellschaften bezwecken die Herausgabe von Büchern und Zeitschriften. Auch
besitzen die Litauer Arbeiter-, Frauen-, Theater- und ähnliche Vereine. All¬
jährlich werden hier und dort etwa zweihundertundfünfzig Theateraufführungen
veranstaltet. Die Temperenzoereinigungen haben etwa dreißigtausend Mitglieder.

Im allgemeinen ist höhere Bildung unter den Litauern etwas weniger
verbreitet, als unter den Letten, welch letztere schon seit Jahrzehnten völlig
selbständig für ihre eigenen kulturellen Bedürfnisse zu sorgen in der Lage waren.
Am wenigsten sind die Ostlitauer in kultureller und nationaler Beziehung vor¬
wärtsgekommen. Sie stehen zu sehr unter polnischem und weißrussischem Einfluß,
der sie in jeder Weiterentwicklung hemmt. Insonderheit haben die Polen, sogar
mit roher Gewalt und an geweihter Stelle, wiederholt jede Regung litauischen
Lebens, jeden Gebrauch titanischer Sprache urd Sitte zu verhindern gesucht.
Doch erringt der Polonismus dort gegenwärtig weiter keine Erfolge, weicht
vielmehr zurück, besonders seitdem einige litauische Vereine die kulturelle Hebung
Ostlitauens sich angelegen sein lassen.

In wirtschaftlicher Hinsicht kann Litauen nicht gerade als ein sonderlich
produktives Land angesehen werden. Bodenschätze gibt es wenige. Getreide-
und Flachsbau, Viehzucht und Waldwirtschaft sind die hauptsächlichsten Erwerbs¬
zweige der Bevölkerung. Doch finden sich in größeren Orten, wie Wilna,
Kowno, schauten und anderen verschiedene Fabriken, namentlich Eisengießereien,


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[0244] Die litauisch-baltische Frage Diese Zahlen stammen aus zweiter Quelle und enthalten zweifellos einige Druckfehler, bieten aber ein richtiges Gesamtbild. Das großlitauische Volk besitzt eifriges Streben nach Bildung. In dieser Beziehung steht es zum Teil wohl über den preußischen Litauern. Auch wenig begüterte Bauern bemühen sich, wenigstens einen Sohn auf das Gymnasium zu schicken, zunächst mit dem Ziel, ihn einst als Geistlichen im priesterlichen Gewände zu sehen. Daher kommt es, daß die gesamte Geistlichkeit in Litauen mitsamt den Bischöfen rein litauisch ist und jetzt auch litauisch fühlt und sich in litauisch¬ nationalem Sinne betätigt. Aber viele Gymnasiasten ziehen es vor, statt in das Priester semin ar zu treten, das Gymnasium bis zur Maturität zu durch¬ laufen, um später nach absolvierten Studium als Mediziner, Advokaten oder Philologen ihrem Volke zu dienen. In letzter Zeit haben sich manche auch dem Bankwesen zugewandt, einem Zweige, der, wie der Handel, bis dahin keine Vorliebe bei den Litauern gefunden hatte. Besonders deutlich zeigt sich das Streben der Litauer nach Kultur und sozialer Selbsthilfe im Vereinsleben. Die litauische wissenschaftliche Vereinigung in Wilna zählt fast alle gebildeten Litauer zu ihren Mitglieder; sie besitzt ein Museum für Volkskunde und eine wertvolle Bibliothek. Der litauische Kunst- verein veranstaltet alljährlich Kunstausstellungen und besitzt ebenfalls ein Kunst¬ museum. Drei große Volksbildungsvereinigungen arbeiten mit hundertunddreißig Zweigvereinen an der kulturellen Hebung des Volkes. Zwei Vereine sorgen für Unterstützung bedürftiger Studenten; sechs Genossenschaften und Aktien¬ gesellschaften bezwecken die Herausgabe von Büchern und Zeitschriften. Auch besitzen die Litauer Arbeiter-, Frauen-, Theater- und ähnliche Vereine. All¬ jährlich werden hier und dort etwa zweihundertundfünfzig Theateraufführungen veranstaltet. Die Temperenzoereinigungen haben etwa dreißigtausend Mitglieder. Im allgemeinen ist höhere Bildung unter den Litauern etwas weniger verbreitet, als unter den Letten, welch letztere schon seit Jahrzehnten völlig selbständig für ihre eigenen kulturellen Bedürfnisse zu sorgen in der Lage waren. Am wenigsten sind die Ostlitauer in kultureller und nationaler Beziehung vor¬ wärtsgekommen. Sie stehen zu sehr unter polnischem und weißrussischem Einfluß, der sie in jeder Weiterentwicklung hemmt. Insonderheit haben die Polen, sogar mit roher Gewalt und an geweihter Stelle, wiederholt jede Regung litauischen Lebens, jeden Gebrauch titanischer Sprache urd Sitte zu verhindern gesucht. Doch erringt der Polonismus dort gegenwärtig weiter keine Erfolge, weicht vielmehr zurück, besonders seitdem einige litauische Vereine die kulturelle Hebung Ostlitauens sich angelegen sein lassen. In wirtschaftlicher Hinsicht kann Litauen nicht gerade als ein sonderlich produktives Land angesehen werden. Bodenschätze gibt es wenige. Getreide- und Flachsbau, Viehzucht und Waldwirtschaft sind die hauptsächlichsten Erwerbs¬ zweige der Bevölkerung. Doch finden sich in größeren Orten, wie Wilna, Kowno, schauten und anderen verschiedene Fabriken, namentlich Eisengießereien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/244>, abgerufen am 27.09.2024.